2023: Top-Thema 06

HIV-Krise in Russland

Abstract:

Während die HIV-Infektionszahlen weltweit zurückgehen oder zumindest stabil bleiben, lässt sich vor allem in Osteuropa ein gegenteiliger Trend erkennen. Auf Platz eins der Neuinfektionsraten mit dem HI-Virus liegt Russland. Selbst nach den offiziellen, der Weltgesundheitsorganisation WHO gemeldeten Zahlen gab es in Russland 2021 mehr neue HIV-Diagnosen (58.340) als in den übrigen 52 Staaten der WHO-Region Europa mit einer vielfach größeren Bevölkerung zusammen (48.168). Wie bei der Corona-Pandemie wird über das tatsächliche Ausmaß der HIV-Epidemie in den russischen Medien kaum berichtet. Mehr als 2 Millionen Menschen und damit ca. 1,5% der Gesamtbevölkerung sind HIV-positiv (zum Vergleich Deutschland 0,1%); rund 40% der Infektionen erfolgen durch heterosexuelle Kontakte, sodass sich das Virus auch jenseits der Risikogruppen (Drogenabhängige, homosexuelle Männer) schnell verbreitet. Anstatt dieses Problem mit Behandlungs- und Aufklärungsmaßnahmen zu bekämpfen, setzt die russische Regierung auf Tradition und Moral. Sex und Drogenkonsum, die Hauptgründe für die Verbreitung des Virus, gelten als unmoralisch und werden tabuisiert. Aus Angst vor Stigmatisierung vermeiden Infizierte Tests und Behandlung. Das Ausmaß dieser sich verschärfenden Krise ist in Deutschland kaum bekannt, obwohl in Deutschland ca. 1 Million Menschen leben, die in Russland geboren sind und es weiter signifikante Migration von dort gibt.

Sachverhalt & Richtigkeit: 

HIV steht für „Human Immunodeficiency Virus“. Dieses zerstört bestimmte Zellen der Immunabwehr und macht so den Infizierten anfällig für andere Erkrankungen. Die Infektion kann zu AIDS („Acquired Immunodeficiency Syndrome“) führen, wenn sie nicht behandelt wird. Aus dieser Immunschwächung resultieren häufig Lungenentzündungen und Pilz- erkrankungen. Übertragen wird HIV über das Blut oder beim Geschlechtsverkehr. Durch Kondome, saubere Spritzen beim Drogenkonsum und medikamentöse Vorsorge kann man sich aber davor schützen. Die Behandlung mit antiretroviralen Medikamenten kann die Virus- menge im Blut so senken, dass dieser nicht mehr übertragbar ist. Besonders gefährdet von einer Infektion mit HIV sind sogenannte Risikogruppen (key population), beispielsweise Drogenkonsumenten und Sexarbeiter, aber auch homosexuelle Männer und Gefängnisinsassen.

Das Virus kam erstmals 1987 nach Russland, die Zahlen stiegen aber erst einige Jahre später rasant an. Zurückzuführen ist dieser Anstieg insbesondere auf den Konsum injizierter Drogen, der durch den Drogenschmuggel von Zentralasien nach Europa auftrat. Teilen sich mehrere Personen dieselbe Spritze, wird das Virus so über das Blut übertragen.

In Russland waren im Juni 2018 1,3 Millionen Menschen mit dem immunschwächenden Virus infiziert, 294.000 von ihnen starben, wie die Bundeszentrale für Politische Bildung berichtet. Die Anzahl der neuen Diagnosen des vergangenen Jahres beträgt offiziell 58.340 Menschen. Es ist aber davon auszugehen, dass die Zahl der tatsächlich mit HIV infizierten Menschen noch um einiges höher ist. Regional gibt es große Unterschiede, was die Infektionszahlen betrifft, zum Beispiel ist die Region Swerdlowsk am Ural, mit der Provinzhauptstadt Jekaterinburg, stärker betroffen als anderen Regionen.

Nur 3% der Risikogruppe lassen sich testen, der Rest lehnt die Tests oft aus Angst vor Stigmatisierung oder Diskriminierung ab und wird somit nicht offiziell aufgelistet. Die Organisation UNAIDS geht davon aus, dass etwa 50% aller Personen, die mit HIV infiziert sind, nichts davon wissen. Die Durchschnittsbevölkerung wägt sich eher in Sicherheit und glaubt, sich nicht schützen zu müssen, weil sie von dem Virus nicht betroffen wären.

Auf dem Papier bestand die nationale russische Strategie gegen HIV/AIDS von 2017 bis 2020 aus einigen Präventionsprogrammen, die einerseits die Ausbreitung von HIV abmildern sollten, sowie aus Behandlungsmaßnahmen, die die Sterberate reduzieren sollten. Susanne Müller von der Organisation Brot für die Welt, die sich für die Bekämpfung von HIV einsetzt, weiß aber, dass der Staat weitgehend untätig bleibt und wenig unternimmt, um die Epidemie in den Griff zu bekommen. Das liegt unter anderem daran, dass immer noch davon ausgegangen wird, die Krankheit würde mit „unmoralischem Verhalten“ zusammenhängen und dass Randgruppen für die Verbreitung verantwortlich seien. Das enge Geflecht aus Kirche und Regime spielt hier eine zentrale Rolle. Die teilt befeuert genau diese Überzeugung und sieht das Virus als Strafe Gottes für die Betroffenen, beispielsweise Homosexuelle und Prostituierte, die sie sich durch ihr Verhalten eingehandelt haben. Der Fokus liegt also weiterhin auf der so genannten

„Wiederbelebung der moralischen Werte der Nation“.

Das verfügbare Geld fließt in die Bekämpfung der Übertragung des Virus von Mutter auf ungeborenes Kind, weil hier die Erfolgschance hoch ist. Darüber hinaus investierte die Regierung in zahlreiche Massentestungen, letztes Jahr waren es 40 Millionen, die höchste Testungsrate weltweit. Es fehlt den Behörden jedoch an Effizienz und Kooperations- bereitschaft, um die Last der Epidemie zu tragen. Das Gesundheitsministerium und das Föderale AIDS-Zentrum arbeiten nicht zusammen und leiden unter mangelnden finanziellen Mitteln. Darüberhinaus herrscht unter dem medizinischen Personal teilweise Unwissenheit die verschiedenen Ansteckungswege betreffend und einige von ihnen weigern sich aus Angst vor Ansteckung Menschen mit HIV zu behandeln. Patienten, die neben HIV weitere komorbide Infektionskrankheiten wie Tuberkulose oder Hepatitis-C haben, bekommen zudem oftmals keine differentialdiagnostische und ganzheitliche Behandlung. HIV-Testungen und die antiretrovirale Therapie (ART), die die Vermehrung der Viren im Körper stoppen soll, sind für Betroffene zwar kostenlos. Die Kosten für die Regierung steigen jedoch linear mit der Zunahme an erkrankten Personen. Im Jahr 2017 wurden umgerechnet 296 Millionen US-Dollar für die Behandlung von nur 235.000 Menschen ausgegeben. Diese Summe reicht nur für einen Bruchteil der hilfsbedürftigen Menschen. Für 2018 bis 2021 stellte das Finanzministerium die geplante Bereitstellung von 1,2 Milliarden US-Dollar nicht mehr zur Verfügung.

Leider ist die angebotene Behandlung auch unzureichend. Nur 34% der Betroffenen sind wirklich in Therapie, davon erhalten nur knapp 1,4% der russischen ART-Patienten die fortschrittliche „Eine-Tablette-Pro-Tag“ Behandlung. HIV-Präexpositionsprophylaxe (PrEP) könnte die Übertragung von HIV in einigen Fällen verhindern, beispielsweise wenn nur ein Partner mit dem Virus infiziert ist, allerdings ist das Medikament in Russland nicht verfügbar. Vor dem Hintergrund der defizitären und zugleich kostenintensiven Behandlungsmöglichkeiten gewinnt die Prävention durch Aufklärung und Verhaltensänderung an Bedeutung. Doch durch die Regierung offiziell genehmigte Maßnahmen in diese Richtung sind kaum vorhanden.

Das mitunter größte Problem bleibt Russlands Umgang mit Angehörigen der Risikogruppen. Drogenkonsum wird kriminalisiert und strafrechtlich verfolgt, anstatt gesundheitlich durch Entzugsmaßnahmen behandelt zu werden. 2013 wurde eine Zwangsbehandlung für Abhängige eingeführt, bei der die Menschen zum Teil Schocktherapien erhielten oder gar ins Koma versetzt wurden. Diese Praxis wurde als Menschenrechtsverletzung eingestuft. Es ist also nicht überraschend, dass sich diese Menschen durch Angst vor Diskriminierung oder Verhaftung nicht offiziell testen lassen. Das ist aber ein Problem für die gesamte Bevölkerung, weil sie so eine potenzielle Infektionsgefahr für andere Menschen darstellen.

Auch die häusliche Gewalt nimmt zu. Dadurch, dass die Gesetze zur Bestrafung aufgehoben wurden, ist es nun wieder erlaubt, die eigene Frau zu vergewaltigen. Vergewaltigungen, besonders durch fremde Männer, sorgen für eine weitere Verbreitung des HI-Virus. Eine Kontrolle und Vermeidung dieser Gewalt durch Sozialarbeiter war in den vergangenen Jahren aufgrund der Pandemie und nun des Krieges kaum umsetzbar. Gefangene in den Gefängnissen Russlands müssen ebenfalls viel Gewalt erleben und im Falle einer Infektion mit HIV sind sie nach der Freilassung potenzielle Verbreiter des Virus.

Die Regierung weigert sich, Aufklärungsmaßnahmen zu ergreifen, u.a. den Gebrauch von Kondomen zu fördern. Es gibt im Land strenge Gesetze in Bezug auf sexuelle Aufklärung sowohl für Teenager als auch für Erwachsene. Die erlaubten Lehrprogramme predigen Abstinenz und Sittlichkeit, ganz nach alter kirchlicher Tradition. Susanne Müller betont, wie wichtig es sei, Aufklärung unter jungen Leuten in Schulen und Universitäten zu fördern, um zu der Bevölkerung durchzudringen.

Spätestens seit Kriegsbeginn sind alle unabhängigen Medien ins Ausland geflohen und versuchen, von dort aus zu berichten. Da russische Anbieter die Zugänge gesperrt haben, sind diese Informationen nur über Umwege via VPN Kanäle zu erreichen.

Aleksey Lahov, Mitglied bei UNAIDS, berichtet, dass staatliche Medienangebote sich hauptsächlich auf die Erfolge hinsichtlich der HIV Prävention und Behandlung berufen. Oppositionelle Medienangebote stellen die Lage realistischer und kritischer dar, aber auch auf diese Berichterstattung kann man sich nicht vollständig verlassen. “In beiden Fällen wird die Situation der Testerfolge und Präventionsmaßnahmen wahrscheinlich nicht ganz korrekt repräsentiert. Persönlich denke ich aber, man kann den in den oppositionellen Medien zitierten Experten eher glauben.” Diese Fehlinformation in den Medien verstärkt die Verunsicherung der Gesamtbevölkerung und führt zur Fehleinschätzung der HIV-Epidemie des Landes.

Die Verunsicherung und Ratlosigkeit der Betroffenen führt sie vermehrt in Internetforen der AIDS-Leugner Bewegung. Die dort verbreiteten Ideen, dass HIV nicht als krankheitserregen- des Virus nachweisbar oder Teil einer Verschwörung der Pharmaindustrie oder feindlicher Staaten sei, geben Menschen Hoffnung auf Entlastung nach einem positiven Test. Aufgrund dieser Bewegung sind schon einige Menschen gestorben, denn sie verbreiten Falschinforma- tionen und versuchen, HIV-Infizierte davon zu überzeugen, die ART abzubrechen oder gar nicht erst anzufangen, weil sie wirkungslos sei. Warum die AIDS-Leugner immer mehr Zuspruch erhalten, lässt sich auf mehrere Gründe zurückführen: Allen voran auf die fehlenden Informationen zu HIV und AIDS durch die Tabuisierung in der Gesellschaft. Weil HIV-positive Menschen ihre Diagnose in der Öffentlichkeit geheim halten, entsteht der Eindruck, es gäbe gar keine extrem hohen Zahlen. Die unterfinanzierten Behörden können kaum eine Vor- bzw. Nachberatung anbieten und die Qualität der ART ist aufgrund mangelnder oder veralteter Medikamente unzureichend. Daraus entstehen Nebenwirkungen, die Betroffenen vermitteln, die Therapie sei zusätzlich gesundheitsschädlich. Im Jahr 2019 gab es zwar einen Gesetzentwurf gegen die Leugnung von HIV und AIDS, aber durchgesetzt hat sich dieser nicht.

In den 2000er Jahren waren viele ausländische Hilfsorganisationen und NGO’s in Russland, um insbesondere Risikogruppen zu unterstützen. Erhalten sie Geld aus dem Ausland oder unterstützen die key population, gelten sie seit einem Gesetz von 2012 als “ausländische Agenten” und werden vom Regime schikaniert oder gar gezwungen, ihre Arbeit einzustellen. Alexey Lahov weiß, dass trotzdem viele Organisationen im Stillen weiterarbeiten, wie auch “Nowoje Wremja”, die Partnerorganisation von Brot für die Welt, die sich auf soziale Arbeit in von HIV betroffenen Familien spezialisiert hat. “Informationen verbreiten sie über Online- Kanäle, aktive öffentlich Bewerbung dürfen sie aber nicht riskieren, um nicht Probleme mit der Regierung zu bekommen”. Auch Ziele wie die Veränderung bestimmter diskriminierender Gesetze oder Einwirkung auf die Regierungspolitik sind aktuell nicht umsetzbar. Durch den von Russland geführten Angriffskrieg in der Ukraine sinken leider die Fördergelder ausländischer Staaten, viele Organisationen hoffen jetzt auf private Spenden oder Unterstützung von Unternehmen.

Dadurch, dass Organisationen, die als “ausländische Agenten” gelten, dies auch öffentlich bekannt geben müssen, herrscht ihnen gegenüber oft Misstrauen.

Judyth Twigg berichtet auf der Website PONARS Eurasia, dass unter Wladimir Putin 2017 das letzte Förderprogramm des Globalen Fonds zur Bekämpfung von Aids, Tuberkulose und Malaria weitestgehend eingestellt wurde. Nur noch 20 Programme gegen den Nadel- und Spritzentausch sind im Land aktiv. Alle Experten teilen die Ansicht, dass die epidemiologische Situation in Russland eigentlich vermeidbar war. Das enge Geflecht aus traditionellen, kirchlichen Werten und der Verdrängungspolitik der Regierung ist maßgeblich mitverantwortlich für die aktuelle Entwicklung.

Relevanz:

Die Verbreitung des HI-Virus in Russland ist eine potenzielle globale Gefahr, von der nicht nur Risikogruppen betroffen sein werden. Immer mehr Frauen infizieren sich und diese Infizierung stellt automatisch auch die Gesundheit eines potenziellen Kindes aufs Spiel.

Sollten von der Regierung nicht bald effektive Gegenmaßnahmen umgesetzt werden, breitet sich das Virus weiterhin rasant in der Bevölkerung aus. Dies könnte dann in weiterer politischer und wirtschaftlicher Instabilität enden. Außerdem gilt Russland als verantwortlich für den generellen Anstieg der Neuinfektions- zahlen von HIV in ganz Osteuropa. Auch durch den aktuellen Krieg zwischen Russland und der Ukraine verbreitet sich das Virus immer mehr, auch über die Landesgrenze hinaus in die Ukraine. Aber nicht nur Osteuropa ist betroffen, das Virus könnte auch in Deutschland die Neuinfektionszahlen rasant ansteigen lassen, wenn immer mehr infizierte Menschen durch den Krieg hierher flüchten. HIV und die daraus resultierende Immunkrankheit AIDS sind eine der häufigsten Gründe für einen frühzeitigen Tod. Durch die Schwächung des Immunsystems treten auch Krankheiten wie Tuberkulose oder Hepatitis-C häufiger auf, weshalb einige Experten hier von einer Syndemie, also einer Epidemie zweier oder mehrerer Krankheiten, sprechen.

Vernachlässigung:

Die klassischen deutschen sowie internationalen Medien wie Zeitung, Radio und das Fern- sehen beschäftigen sich nur wenig mit dem Thema AIDS bzw. HIV Infektionen in Russland. Im Internet gibt es zwar einige Artikel, die sich mit der Verbreitung und der daraus resultier- enden schwierigen Situation in Russland beschäftigen, diese sind aber größtenteils veraltet und dementsprechend leider nicht mehr auf dem neusten Stand der aktuellen Entwicklungen, was

z.B. die Infektionszahlen betrifft. Besonders auffällig ist auch, dass selbst die AIDS- Hilfsorganisation der Vereinigten Nationen, UNAIDS, keine offiziellen aktuellen Zahlen und Datensätze zu HIV bereitstellen kann.

Es gibt einige NGO’s, die sich damit befassen, diese sind aber nur wenig bekannt und haben häufig nicht genug Personal, um mehr Aufmerksamkeit auf das Thema zu lenken oder ein Interview zu geben. Dies kann auf die schwierige aktuelle Lage der Behinderung der Arbeit von NGO’s in Russland durch die Regierung und die Verfolgung der Organisationen zurückzuführen sein. Auch der Krieg zwischen der Ukraine und Russland erschwert die Hilfsmöglichkeiten. Die Tabuisierung Russlands von HIV und AIDS führt zwangsläufig zu einer nationalen und internationalen Vernachlässigung des Themas.