2023: Top-Thema 02

Ship Abandonment – Aufgabe von Schiffen und ihrer Besatzung

Abstract:

Mit 113 aufgegebenen Hochsee- oder Küstenmotorschiffen und zusammen 1.555 Seefahrern an Bord markiert das Jahr 2022 den Höhepunkt der Praxis der „abandoned ships“. In diesem hochprofitablen Markt erzielen die Schiffseigner und Reedereien eine weitere Kostenoptimierung zulasten von Gewässern, Umwelt und ihrer Schiffsbesatzungen, indem sie das Eigentum an unprofitabel gewordenen Schiffen aufgeben. Mit einem Gesamtanteil von ca. 90-98 Prozent am interkontinentalen und mit ca. 62 Prozent am innereuropäischen Warenverkehr gehört der See- und Überseehandel zu den weltgrößten Handelsinfrastrukturen für Waren, Güter und Rohstoffe. Ein Mangel an Transparenz und verbindlichen internationalen Regularien ermöglicht die Praxis des von der International Maritime Organization definierten „ship abandonment“.

Sachverhalt & Richtigkeit: 

Die ITF (International Transport Workers‘ Federation) und die ILO International Labour Organization- ILO) führen Karten bzw. Listen von Fällen von zurückgelassenen Seeleuten auf sogenannten „abandoned ships“ (Definition von International Maritime Organization, IMO).

Das „ship abandonment“ wird in der Regel durch Kontrollen in angelaufenen Häfen und deren Behörden induziert. Wird ein Schiff als fahruntauglich oder reparaturbedürftig klassifiziert und mit einem Ablegeverbot belegt, erscheint manchem Reeder oder Eigner die Insolvenz vorteilhafter als die Reparatur oder die fachgerechte Abwrackung.

Bekommt ein Schiff jedoch auf einer Passage technische Probleme, z. B. an Maschine oder Ruderanlage, kann es sich ebenfalls ergeben, dass eine Reparatur, ggf. verbunden mit einer vorherigen kostenintensiven Bergung, teurer wäre als die Aufgabe des Schiffs samt Ladung. In beiden Fällen steigt die Gefahr für die Umwelt, aber auch für die Besatzung exponentiell, in Abhängigkeit von der Ladung, welche u. U. giftig oder explosiv ist.

Nach dem Flaggenstaatsprinzip des Seerechtsübereinkommens (SRÜ) der Vereinten Nationen (engl.: United Nations Convention on the Law of the Sea, UNCLOS) fährt jedes Schiff unter der Flagge seiner registrierten Nationalität, bei gleichzeitiger Anwendung des jeweiligen nationalen Rechts und unter Kontrolle des jeweiligen Nationalstaates.

Unter diesem System haben sich „geschlossene Schiffsregister“ und „offene Schiffsregister“ entwickelt. Erstere lassen in der Regel nur Schiffe unter ihrer Flagge zu, wenn der Heimathafen oder der gesellschaftsrechtliche Sitz der Eigentümer/Reeder faktisch im nationalen Hoheitsgebiet der Registratur angesiedelt ist.

In den sogenannten „offenen Schiffsregistern“ können, meist gegen Gebühr, Schiffe unter die jeweilige Flagge genommen werden, für die weder der Heimathafen noch der Sitz der Eigentümer/Reeder in der betreffenden Nation verzeichnet sind.

Registerunabhängig gelten für jedes Schiff die Rechtsbedingungen, Kontrollmechanismen und Ausweisungspflichten des flaggeführenden Staates.

Im internationalen Wettbewerb um die Geld- und Deviseneinnahmen durch solche „offenen“ Schiffsregistrierungen unterbieten sich zunehmend mehr Staaten mit erodierenden rechtlichen Auflagen und Kontrollen – zu Lasten der Umweltrisiken und der Rechte der Arbeitnehmer:innen. Im internationalen Schiffsjargon nennt man die Flaggen solcher Nationen „Flags of Convenience“.

Ein solcher Unterbietungswettbewerb (Race to the Bottom“) führt dazu, dass die wirtschaftliche Nutzung der größten Fläche der Erde und der wichtigsten Seehandelsrouten intransparent ist und kaum effektiv kontrolliert werden kann, von Sanktionsmechanismen ganz abgesehen.

Die (legalen) Voraussetzungen für das „ship abandonment“ und die Aufgabe der Besatzungen lassen sich vereinfacht so darstellen: Ein großes Unternehmen gründet für jedes seiner Schiffe eine Briefkastenfirma im Ausland. Dann werden diese Schiffe in Nationen registriert, welche dazu juristische Personen, ohne Angabe einer verantwortlichen natürlichen Person, zulassen. Dadurch ist eine Briefkastenfirma als Eigentümerin registriert. Wird ein so registriertes Seeschiff ökonomisch unattraktiv, kann die jeweilige Briefkastenfirma Insolvenz anmelden, ohne dass das Kerngeschäft der Muttergesellschaft oder übergeordnete verantwortlich handelnde Personen für den entstandenen Schaden haftend gemacht werden können. Diese rechtliche Grundlage erfreut sich zunehmender Beliebtheit und entsprechende Registrierungen prosperieren kontinuierlich.

Die ersten Leidtragenden dieser Praxis sind die Arbeitnehmer:innen, welche auf derart registrierten Schiffen tätig sind. Für die Mannschaften von „abandoned ships“ stellt sich die Situation wie folgt dar:

In den ersten Wochen und Monaten werden sie von der (ehemaligen) Arbeitgeberin hingehalten.

Getrieben von der Hoffnung, ausstehende Löhne (Heuer) zu erhalten, verbleiben die meisten Besatzungen zunächst freiwillig auf dem Schiff.

Fehlende finanzielle Mittel für Heimflüge und vor allem nicht vorhandene Einreisegenehmigungen führen i. d. R. jedoch dazu, dass die Besatzungen dann monatelang, manchmal jahrelang auf diesen Schiffen verbleiben müssen, auch wenn sie bereits jede Hoffnung verloren haben.

Die betroffenen Schiffsbesatzungen sind auf die Versorgung mit Trinkwasser und Nahrungsmittel durch lokale Hilfsorganisationen angewiesen.

Neben den Menschen, die auf den Schiffen ihrem Leid überlassen werden, hat das Aufgeben von Schiffen oft verheerende Folgen für die Umwelt. Drei von fünf Ölverschmutzungen sind auf „abandoned ships“ zurückzuführen. Neben Wrackteilen, die sich im Meer verteilen, birgt vor allem chemische und häufig giftige Fracht eine große Gefahr für die maritime Umwelt, die Küstenbewohner:innen und die Fischerei.

Ein prominentes Beispiel der aufgeführten Praxis stellt die Explosion der „Rhosus“ dar. Der Fall aus Beirut führte zu einer der größten nicht-nuklearen Explosionen der Menschheitsgeschichte: 2013 unter moldawischer Flagge mit Ziel Mosambik abgelegt und mit Ammoniumnitrat beladen, wurde das Schiff bei einem Zwischenstopp 2014 in Beirut für seeuntauglich erklärt und die Weiterfahrt verboten. Daraufhin wurde das Küstenmotorschiff von dem Schiffseigner und seiner Bank aufgegeben. Der russische Inhaber, mit Firmensitz auf Zypern und Registrierung auf den Marshallinseln, tauchte ab und war nicht mehr zu erreichen. Seine Besatzung verblieb unter den oben geschilderten Umständen etwa ein Jahr auf dem Schiff. 2018 sank das Schiff an der Mole liegend. Die zwischenzeitlich gelöschte Ladung explodierte 2020 in einem Hafenlager von Beirut.

Relevanz:

Das „ship abandonment“ betrifft durch seine Folgen alle Menschen. Unsere Erde ist zu 71 % mit Wasser bedeckt. Knapp 58 Millionen Menschen arbeiten als Seeleute auf Frachtschiffen oder auf Booten in der Fischereiindustrie. 90-98 Prozent des Welthandels finden via Hochsee statt.

Mit 113 aufgegebenen Seeschiffen und zusammen 1.555 Seefahrern an Bord markiert das Jahr 2022 den bisherigen Höhepunkt der Praxis der „abandoned ships“.

Zu der menschlichen Dimension des Problems kommt eine umweltbelastende Dimension, die uns alle direkt betrifft, hinzu. Die Schiffe, oft beladen mit giftiger oder anderweitig umweltbelastender Fracht, sinken oft nach einiger Zeit an den Orten, an denen sie zurückgelassen wurden.

Vernachlässigung:

Fälle von zurückgelassenen Schiffen sind sowohl auf der deutschen Medien-Agenda als auch im gesellschaftlichen und politischen Diskurs nicht oder selten zu finden. Thematisiert werden sie, wenn überhaupt, in den Medien der Länder, die durch die Folgen unmittelbarer betroffen sind.

In einem UNU-EHS Report wird das Thema im Zusammenhang von global verknüpften Risiken anlässlich der Katastrophe in Beirut in einem technischen Hintergrundbericht erläutert, ohne es in das Zentrum der Berichterstattung zu stellen.

Die strukturierteste journalistische Aufarbeitung bietet bisher „The Outlaw Ocean“. Diese englischsprachige, journalistische Non-Profit-Organisation mit Sitz in Washington DC bearbeitet seit Jahren verschiedene „Verbrechen“ auf See journalistisch. Unter anderem widmet sie sich auch dem Thema des „ship abandonment“.

In der Summe scheint es aber noch nicht gelungen zu sein, diesbezüglich eine Debatte zu eröffnen, welche Druck auf die Praktiken und die dahinterstehenden Akteure ausüben könnte. So konnte die Zahl der aufgegebenen Schiffe, medial ganz unbemerkt, 2022 ihren Höhepunkt verbuchen, trotz drastischer humanitärer und ökologischer Folgen.