2022: Top-Thema 04

Palliativversorgung für Wohnungslose

Abstract:

Quälerisch und unbemerkt, so lässt sich der Tod vieler der 417.000 Wohnungslosen in Deutschland beschreiben. Nun folgt nach dem Kampf um das Überleben auf der Straße, der Kampf um einen würdevollen und schmerzfreien Tod. Dabei können Hospize helfen, welche eine Palliativversorgung gewährleisten. 
Jedoch kann keine Aufnahme in ein Hospiz ohne Diagnose erfolgen, die jedoch oftmals nicht vorliegt, da sich Wohnungslose aus psychosozialen Motiven oder Angst heraus nicht ärztlich behandeln lassen. Die größte Hürde stellt jedoch die fehlende Krankenversicherung bei vielen Wohnungslosen dar, die die Übernahme der Kosten für eine Palliativversorgung nach dem Hospiz- und Palliativgesetz ausschließt. Denn die Kosten für die Behandlung können nach demnach lediglich bei Versicherten übernommen werden. 
Während die Berichterstattung zu diesem relevanten Thema fast ausschließlich durch Hospize, wohltätige Vereine sowie Lokal- und Fachzeitungen erfolgt, ist das Schicksal der Wohnungslosen auf der Agenda großer Medienhäuser kaum nachzulesen.  

Sachverhalt & Richtigkeit: 

„Für wohnungslose Menschen kommt der Tod fast immer zu früh“. 
So ist die Lebenserwartung Wohnungsloser mit 49 Jahren aufgrund Faktoren wie mangelnder Gesundheit, Gewalterfahrungen sowie psychischen Belastungen durchschnittlich 30 Jahre geringer. Darunter, so zeigen Studien, häufig auch Krankheiten, die bei rechtzeitiger Behandlung keinesfalls tödlich gewesen wären. 
Sollte nach so vielen Widrigkeiten im Leben, nicht zumindest der Tod behaglich sein? 
Doch, finden viele Hospize, sind aber in ihrem Handlungsspielraum oftmals eingeschränkt. 
Im Idealfall erhalten wohnungslose Menschen in den Hospizen und Krankenhäusern regelmäßige Pflege, Wundversorgung, Medikamentengabe und regelmäßige Mahlzeiten. Dadurch werden bestehende Beschwerden gelindert und der Sterbeprozess ist somit erträglicher als auf der Straße. Für viele Mitarbeiter*innen im Gesundheitswesen und in der sozialen Arbeit ist es wichtig, dass wohnungslose Menschen um die Möglichkeit wissen, woanders als auf der Straße sterben zu können. Dazu sagt Dr. Frauke Ishorst-Witte, die als Ärztin seit vielen Jahren Wohnungslose betreut: „Es geht darum: Wie kann es einem sterbenden, kranken Menschen so gut gehen wie möglich?“ Dieses Ziel verfolgen auch die Hospize, sind jedoch in dessen Umsetzung massiv gesetzlich eingeschränkt. 
Nicht nur in Bezug auf die Versorgung von Wohnungslosen sind Hospize mit vielen Hürden konfrontiert. Allgemein gibt es viel Nachholbedarf in der Umsetzung und Gestaltung von Palliativversorgungsprogrammen in Deutschland, hebt Nuria S., die als Pflegefachkraft mit Zusatzweiterbildung im Bereich Palliativ Care in einem Frankfurter Hospiz arbeitet, hervor. So kritisiert sie die Anzahl an Hospizen in Deutschland, welche sich nach Angaben des Deutschen Hospiz- und PalliativVerbands? e.V. auf 250 stationäre Hospize mit insgesamt etwa 2500 Hospizbetten beschränkt. Die Koordination und Kommunikation zwischen und mit diesen wird in Deutschland von Vereinen und Verbänden gestaltet und zeigt sich laut Struber und Nele Kleinehanding, der leitenden Sozialarbeiterin für Armut und Gesundheit in Deutschland e.V., in Teilen kompliziert und träge. Sie entstehe aus Eigeninitiative und basierend auf der Motivation und dem Grundgedanken, Menschen durch ihre Arbeit in medizinischen und sozialadministrativen Bereichen helfen zu wollen, so Kleinehanding.
Im Hinblick auf die Betreuung von Wohnungslosen intensiviert sich die ohnehin suboptimale Situation der Hospize zu einer schier unmöglichen Aufgabe. 
Das Leben auf der Straße und die temporären Wohnmöglichkeiten der Wohnungslosen bieten keinen normalen Alltag. Wenn es keine Tagesstruktur gibt und eine regelmäßige Anwesenheit an einem Standort nicht möglich oder unerwünscht ist, kann dies die laufende Betreuung erschweren. Der ambulante Palliativdienst kann beispielsweise mit versäumten Terminen, einem ungeplanten Ortswechsel oder der Abwesenheit von Patient*innen konfrontiert werden. Dem Wunsch, in einer angenehmen Atmosphäre begleitet zu werden, wie es in der ambulanten Palliativversorgung optimalerweise der Fall ist, muss mit Offenheit und Flexibilität begegnet werden. Individuelles Aushandeln von medizinischer Versorgung ist mühsam, schafft aber Vertrauen, indem die Eigenständigkeit und die Selbstbestimmtheit der Sterbenden respektiert wird.
Weiterhin ist hervorzuheben, dass eine Unterbringung in einem Hospiz nur mit einer Diagnose möglich ist. Diese liegt jedoch bei Wohnungslosen nur selten vor, da Wohnungslose oftmals den Besuch in medizinischen Einrichtungen vermeiden. Dies kann verschiedene Gründe haben, beispielsweise Angst, Scham oder fehlendes Vertrauen in das Gesundheitssystem. Das zweite und gravierendere Problem ist das häufige Fehlen einer Krankenversicherung bei den Wohnungslosen. 
Die Kosten für palliative Behandlungen werden für Menschen in Deutschland in der Regel von Krankenkassen getragen. Dies aber auch nur, sofern Sozial- und Kassenbeiträge in Regelmäßigkeit bezahlt wurden. Zwar können deutsche Staatsbürger*innen Sozialhilfe in Anspruch nehmen und darüber auch krankenversichert werden, doch scheitere es häufig bereits am bürokratischen Aufwand, so Kleinehanding.
Terminabhängigkeit, gültige Ausweisformulare und die Menge an zu bearbeitenden Unterlagen sei häufig schon der Grund für das Scheitern und die dadurch ausbleibenden Zahlungen von Krankenkassenbeiträgen. Weiterhin kritisiert sie, dass der bürokratische Aufwand, der schon für ausgebildete Sozialarbeiter*innen eine Herausforderung darstelle, von Menschen, deren Gedanken ihrer Gesundheit und ihrem Überleben gewidmet sind, nicht zu bewältigen sei. Diese Erfahrung teilt auch Pflegekraft Struber. Sie führt an, dass im Falle von ausbleibenden Sozial- und Versicherungsleistungen, komplexe Umwege notwendig seien, um Patienten rückwirkend zu versichern oder finanzielle Hilfen von Vereinen, wie dem Hospizverein, einholen zu können. Die Aufbringung dieser Gelder kann im Zweifelsfall bis zu sechs Monate in Anspruch nehmen und fordert zusätzlich einen immensen Arbeitsaufwand der Verantwortlichen.
Noch kritischer gestalte sich die Versorgung laut Kleinehanding bei Wohnungslosen ohne deutsche Staatsbürgerschaft. So haben sie ohne Arbeitsstelle in Deutschland durch das Gesetz zur Sozialhilfe für Ausländer*innen (§23 SGB XII) keinen Anspruch auf dauerhafte Sozialleistungen, sondern werden nach der Erbringung von vierwöchigen Überbrückungsleistungen schlimmstenfalls ins Ausland abgeschoben. Dies gilt der Unkenntnis nach vieler ebenso für EU-Bürger. Mit Blick auf eine mögliche Notwendigkeit einer palliativen Betreuung und dem damit einhergehenden gesundheitlichen Zustand der Betroffenen drängt sich weiterhin die Frage der Umsetzbarkeit und der Menschlichkeit einer Rückführung auf. Kleinehanding beschreibt, dass Vereinen und Organisationen somit durch die Gesetzgebung die Hände gebunden und sie in ihrer Arbeit behindert seien und führt an, dass ein solches Gesetz weder förderlich noch mit dem Grundgedanken der EU vereinbar sei.
Einen alternativen Ansatz im Hinblick auf die Palliativversorgung von Wohnungslosen demonstrieren die Verantwortlichen des VinziDorf-Hospizes der Elisabethinnen im österreichischen Graz. Angrenzend an das Vinzidorf, eine Wohnungslosenunterkunft mit 32 Einzelschlafplätzen in Baucontainern, wurde dort ein Hospiz ausschließlich für Wohnungslose errichtet.
Als Schlüssel für den Erfolg dieses Konzeptes beschreibt Dr. Gerold Muhri, ärztlicher Leiter des VinziDorf-Hospizes, den kompromisslosen Wunsch und Auftrag ihres Trägers: „schau hin und handle“. Durch Kooperationen mit einer Hausärztin und einer Ambulanz für versicherungslose Menschen habe sich das Hospiz ein Netzwerk geschaffen, welches sich in konkreten Fällen im Rahmen der Versorgung individueller Patient*innen erweitere. 
Finanziert wird das Projekt durch eine Kombination aus öffentlichen Geldern, Investoren wie Kirchen und Firmen, sowie Privatspenden. Laut Dr. Muhri gestalte sich die Finanzierung ihres Projekts auch bei der Kostendeckung der Behandlungen zu einem kleinen Teil aus Geldern der öffentlichen Hand sowie Spenden und Erlösen aus Benefizveranstaltungen. Versicherte Personen können das Angebot des Hospizes ebenso in Anspruch nehmen Versicherungslose, wobei Versicherten die Kosten der Behandlung simultan zu traditionellen Pflegeeinrichtungen berechnet würden.  
Im Falle unzureichender finanzieller Mittel durch Spenden, Versicherungen und Eigenbeteiligungen habe sich der Orden der Elisabethinnen Graz dazu verpflichtet, „eine vollwertige Versorgung von (unversicherten) Menschen in dieser Einrichtung zu gewährleisten. Das inkludiert auch kostenintensive Versorgungen, wenn diese notwendig sind. Wenn nicht ausreichend Spenden aufgetrieben werden können, übernimmt der Orden schließlich die offenen Kosten.“
Dass ein solches Projekt, welches sich für das Wohlergehen und einen würdevollen Tod von Menschen einsetzt, auf private Finanzierung sowie die Finanzierung durch Verbände und Vereine angewiesen ist, kritisiert die Sozialarbeiterin Kleinehanding. Sie sieht die Schuld für diesen Missstand nicht bei den Hospizen selbst, da diese für ihr eigenes Fortbestehen kostendeckend arbeiten müssen, sondern bei der Gesetzeslage, die keine Kostenübernahme für solche Fälle vorsieht. So sollte es ihr zufolge nicht die Verantwortung von Organisationen und Vereinen sein, in einem reichen Land wie Deutschland Menschen aufzufangen, die durch das soziale Netz gefallen sind. 

Relevanz:

Gerade im Hinblick auf die Corona-Pandemie und die Zunahme an Einwander*innen in Deutschland, gewinnt das Thema Palliativversorgung für Wohnungslose zunehmend an Relevanz. So sind Wohnungslose jüngst mit vielen Hindernissen konfrontiert. 
Sei es aufgrund von Ausgangsbeschränkungen, wodurch Spenden von Fußgänger*innen in der Stadt ausbleiben oder gesundheitliche Risiken durch einen eingeschränkteren Zugang zu Impfstoffen. Aber auch die brisante Problematik der vielen unversicherten Wohnungslosen hebt die Notwendigkeit für sofortigen Handlungsbedarf hervor. 
Ist das Leben schwerer, so ist dies auch der Tod.
Die Gesetzeslage muss dringend angepasst und schwerfällige bürokratische Strukturen reduziert bzw. beseitigt werden. Nur so können die Barrieren beseitigt und somit günstigere Bedingungen für gemeinnützige und nichtstaatliche Organisationen geschaffen werden. In Zukunft könnte dann zumindest der ein oder andere Wohnungslose würdevoll von der manchmal gnadenlosen Welt Abschied nehmen. 

Vernachlässigung:

Was mit den bettelnden Wohnungslosen auf der Straße passiert, wenn sich ihr Leben langsam dem Ende neigt? Darüber denken viele Menschen wahrscheinlich nicht nach, wenn sie sie Fußgängerzone durchqueren. 
Dies ist mitunter auch der eingeschränkten Berichterstattung zu diesem Thema geschuldet. So berichten hauptsächlich Hospize, Vereine und Institutionen wie beispielsweise die Diakonie oder Lokal- bzw. Fachzeitungen, welche sich auf das Thema Wohnungslosigkeit spezialisiert haben. Ende 2021 schreibt nun auch der Bayerische Rundfunk in dem Artikel „Ausstellung: Wie Wohnungslose auf ihren eigenen Tod blicken“ zum Thema Palliativversorgung für Wohnungslose. Jedoch ist die mediale Aufmerksamkeit für das Thema nichtsdestotrotz viel zu gering. Dies muss sich ändern, damit Hospize und andere Einrichtungen, welche sich für die Palliativversorgung von Wohnungslosen einsetzten, größere Unterstützung erfahren, sowohl in finanzieller als auch in gesellschaftlicher Hinsicht. Was den Hospizen in ihrer Arbeit nachhaltig helfen würde, ist eine Änderung der Gesetzeslage, welche ihren Handlungsspielraum erweitert. Um dieses Ziel zu erreichen, muss dieses wichtige Thema viel präsenter in den Medien und in der Öffentlichkeit sein, denn was auf der Medienagenda steht, findet häufig auch seinen Weg in die politische Agenda.  

Kommentare:

Nuria S., Pflegefachkraft:
„Wenn eine Rückversicherung des Obdachlosen nicht funktioniert, weil das Sozialamt und die Krankenversicherung sich wehren, dann haben wir immer noch den Hospizverein und der trägt für die Betroffenen die Kosten. In der Regel wird versucht die Kosten von außen einzuholen, falls das gar nicht möglich ist, wird es erstmal durchs Hospiz übernommen, weil die humanitäre Hilfe im Vordergrund steht. […] Die Ärzte, die den Menschen betreut haben, können die Kosten vom Amt rückfordern. Das kann allerdings bis zu einem halben Jahr gehen, sodass die jeweiligen in Vorkasse gehen müssen.“ 

Benno Bolze, Geschäftsführer des Deutschen Hospiz und Palliativ Verband e.V.:
„Das Thema Corona Pandemie, Abstand und Impfung ist natürlich auch da ein großes Problem für Menschen, die auf der Straße leben. Das trifft dann nochmal mehr, die ärmsten der Armen, die wir in Deutschland haben. Da die Kontakte einzuschränken und anderes ist eine große Herausforderung für die Menschen in der Wohnungslosigkeit, als auch die Mitarbeiter in allen medizinischen berufen, da schließe ich nicht nur die Hospiz Dienste ein, sondern alle die in dem Gesundheitswesen und Sozialwesen tätig sind für die Menschen in der Wohnungslosigkeit.“