2022: Top-Thema 03

Pflegende Kinder und Jugendliche 

Abstract:

In Deutschland sind etwa 480.000 Kinder und Jugendliche regelmäßig an der Pflege ihrer Angehörigen beteiligt. Obwohl sie damit einen enormen Dienst für die Gesellschaft leisten, spielen junge Pflegende kaum eine Rolle in der öffentlichen Diskussion. Nach großer, aber kurzweiliger Medienaufmerksamkeit in den Jahren 2018 und 2019 sind weitreichende Veränderungen in Bezug auf altersgerechte Hilfestellungen ausgeblieben. Stattdessen sind pflegende Kinder und Jugendliche wieder weitestgehend von der Medien-Agenda verschwunden. Die fehlende Thematisierung dieser besonderen Pflegenden birgt allerdings das Risiko eines Zusammenbruchs des deutschen Pflegesystems, das gesamtgesellschaftlich nicht zu unterschätzen ist. Darüber hinaus wird übersehen, dass die Kinder und Jugendliche keine Lobby besitzen, die ihre Interessen vertreten und für eine Verbesserung ihrer schwierigen Situation eintreten, da die Pflege erhebliche Ressourcen binden. Dies ist erforderlich, um Überforderungen der Minderjährigen zu vermeiden, die neben der allgemeinen psychischen und physischen Belastung auch eine Einschränkung der Arbeits- und Freizeitoptionen bedeuten können.  

Sachverhalt und Richtigkeit:

„Kinder und Jugendliche, die regelmäßig für ein oder mehrere chronisch kranke Familienmitglieder sorgen, ihnen helfen und sie pflegen, werden als pflegende Kinder bezeichnet.“ (Metzing 2018:9). Gepflegt werden meist die Eltern, Großeltern und Geschwisterkinder, mitunter aber auch entferntere Verwandte. Die Aufgaben der sogenannten „Young Carer“ variieren dabei in Art und Häufigkeit. So umfasst die Pflegetätigkeit zumeist Aufgaben im Haushalt, aber auch emotionale Unterstützung sowie medizinische Tätigkeiten oder die Körperhygiene der Erkrankten. Einige junge Pflegende unterstützen weitere Familienmitglieder bei der Pflege, andere sind ganz alleine für die Versorgung verantwortlich. Die Gründe für die Pflegebedürftigkeit reichen von körperlichen und psychischen Beeinträchtigungen und Krankheiten bis hin zu Suchtkrankheiten.
Zwar gaben bei einer Befragung im Rahmen des „Pflegereports 2021“ der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) zum Thema „Junge Menschen und Pflege“ fast 75 Prozent der Befragten an, bei der Pflege ihrer Angehörigen schon einmal negative Erfahrungen gemacht zu haben, allerdings bestätigten auch 83 Prozent das Erleben positiver Erfahrungen. Zudem besteht unter den 16- bis 39-Jährigen große Bereitschaft zur Pflege ihrer Angehörigen. Nichtsdestotrotz kann zu viel Pflegeverantwortung zu seelischen wie körperlichen Krankheiten führen. Für viele Young Carer stellt die Pflegeleistung eine Belastung und Einschränkung dar. Professionelle Hilfe suchen die meisten Minderjährigen dennoch nicht. Das kann vielfältige Ursachen haben. Einerseits haben Familien häufig Angst davor, externe Helfende könnten sich zu stark einmischen und sie schlimmstenfalls voneinander trennen. Andererseits erkennen gerade Kinder ihre Position innerhalb der Familie meist gar nicht als die eines Young Carer; viele wissen gar nicht, dass es einen Begriff für ihre Situation gibt. Problematisch ist hierbei, dass diese Kinder und Jugendlichen sich somit auch nicht als Zielgruppe spezifischer Unterstützung identifizieren können. Es hat sich aber gezeigt, dass sich pflegende Kinder und Jugendliche in der Regel sehr wohl nach mehr Unterstützung sehnen.
Bestehende Angebote wie das 2017 gestartete Projekt „Johanniter Superhands“ und das 2018 gestartete Projekt „Pausentaste“ des Bundesministeriums für Familie, Senioren, Frauen und Jugend beschränken sich dabei größtenteils auf die Möglichkeit, sich online zu informieren und gegebenenfalls auszutauschen. Das in Berlin ansässige Unterstützungs- und Hilfsangebot „echt unersetzlich“ aus dem Jahr 2017 bietet auch persönliche Treffen an. Ein derartiges Angebot gibt es vielerorts aber nicht. Obwohl beispielsweise die 2019 von Lana und Katharina R. gegründete „Young Carer Hilfe“ konkrete Ideen zum Aufbau lokaler Unterstützungsstrukturen frei zur Verfügung stellt, wurden diese bisher nicht berücksichtig. „Ob es eine Entwicklung nach vorne gibt, hängt vom politischen und sozialen Willen zur Veränderung ab […]. Ergebnisse aus der Forschung bieten Wissen und Ansätze sowie praktische Modelle […].“ (Becker und Leu 2017:34) In Deutschland fehlt es grundsätzlich an zwei Dingen: es fehlt eine übergeordnete und explizit zuständige Institution sowie ein funktionierendes Netzwerk über die einzelnen Bundesländer und Kommunen hinweg.
Die Vorschläge und Forderungen der Wissenschaft sehen wie folgt aus: zusammengefasst braucht es spezielle, auf junge Pflegende abgestimmte, leicht zugängliche Beratungsangebote vor Ort, Möglichkeiten zum Ausgleich sowie die offene Thematisierung in Schulen und anderen Bildungseinrichtungen. Insbesondere in den Experten-Interviews, die im Vorfeld dieses Berichts geführt wurden, hat sich herausgestellt, dass eine Enttabuisierung des Themas und ein offener Umgang mit der eigenen familiären Situation bereits äußerst hilfreich für junge Pflegende sein kann. Eine Reform des Pflegerechts zugunsten pflegender Kinder und Jugendlicher ist über kurz oder lang unumgänglich. Dazu muss jedoch zu aller erst ein nachhaltiges und umfassendes gesamtgesellschaftliches Bewusstsein für minderjährige Pflegende geschaffen werden. Young Carer können sich nur dann als solche identifizieren und Hilfe suchen, wenn sie wissen, wer sie sind. 

Relevanz:

Hierzulande pflegen bereits etwa 6,1 Prozent der 10- bis 19-Jährigen und damit knapp 480.000 Kinder und Jugendliche (vgl. Metzing 2018:93). Sie übernehmen eine essentielle Stützfunktion für die Gesellschaft – das deutsche Pflegesystem hängt wesentlich von der familiären Bereitschaft zur Pflege ab. Nichtsdestotrotz finden die speziellen Belange minderjähriger Pflegender in der allgegenwärtigen Diskussion um den Pflegenotstand kaum Beachtung. Dabei ist die fachgerechte Unterstützung der Young Carer nicht nur eine Chance, dem Notstand entgegenzuwirken, sondern unter Umständen sogar eine Notwendigkeit. Pflegeverantwortung in jungen Jahren ist weder selten noch voraussehbar; sie kann jedes Kind treffen. „Mit der Pflegeversicherung wurde Pflegebedürftigkeit als allgemeines Lebensrisiko – und das unabhängig vom Lebensalter – anerkannt und die Beantwortung der Unterstützungsbedarfe (mit) in die soziale Verantwortung des Staates gestellt.“ (Klie 2021:14) Die Pflegetätigkeit von Kindern und Jugendlichen, deren Schutz in der Gesellschaft ohnehin einen besonderen Stellenwert verdient hat, weiterhin zu ignorieren, wäre dabei aber nicht bloß ein grober Fehler des Staates, sondern gleichermaßen Zeichen gesellschaftlichen Versagens. Ein solches Verhalten könnte die Bereitschaft zur Pflege auch im Erwachsenenalter nachhaltig gefährden. Es besteht die Möglichkeit, die enorme Solidarität zwischen den Generationen überzustrapazieren und so einen vollständigen Systemzusammenbruch zu triggern. Vor allem in Zeiten der Corona-Pandemie, in der häufig die Möglichkeit zum Ausgleich und Austausch fehlt, dürfen diese wichtigen Systemträger nicht in Vergessenheit geraten. 

Vernachlässigung:

 Kinder und Jugendliche mit Pflegeverantwortung standen in Deutschland lange weder auf der Forschungs- noch auf der Medien-Agenda. Während in Großbritannien bereits Anfang der 1990-er Jahre Studien durchgeführt wurden, gab es vergleichbare deutsche Projekte erst rund zehn Jahre später. Seitdem tauchten vereinzelt Artikel zu pflegenden Kindern und Jugendlichen auf; umfassendere mediale Beachtung fand das Thema allerdings erst in den letzten fünf Jahren. Die Grundlage dafür stellten vorrangig zwei große Forschungsprojekte dar: 2017 wurde der Report „Junge Pflegende“ des Zentrums für Qualität in der Pflege (ZQP) und 2018 das vom Bundesministerium für Gesundheit geförderte Projekt „Die Situation von Kindern und Jugendlichen als pflegende Angehörige“ veröffentlicht. Im Jahr 2019 erhielt dann die Schülerin und Young Carer Lana R. große mediale Aufmerksamkeit. In zahlreichen Interviews schilderte sie ihren Alltag als stark in die Pflege des chronisch-kranken Vaters einbezogene Teenagerin. Es entstanden einige Artikel, Beiträge im Hörfunk und die WDR-Dokumentation „Ich lass Dich nicht im Stich, Mama! Wenn Kinder die Eltern pflegen“. Etwa im selben Zeitraum wurden vermehrt Hilfsangebote für Betroffene geschaffen, von denen einige bereits angesprochen wurden. Große Veränderungen sind allerdings ausgeblieben. Spätestens seit Beginn der Corona-Pandemie sind die Young Carer, trotz ihrer systemrelevanten Funktion, sogar wieder weitestgehend aus den Medien verschwunden. Lediglich im Zusammenhang mit der Veröffentlichung des „DAK-Pflegereports 2021“ zum Thema “Junge Menschen und Pflege“ entstanden einige Artikel, etwa in der Online-Version des „Ärzteblatts“, die sich auf die Ergebnisse des Reports bezogen. Zudem erschien die „ZDFzoom“-Dokumentation „Verlorene Kindheit – Wenn Kinder ihre Eltern pflegen“.
Auffallend ist, dass die mediale Berichterstattung sich – mit Ausnahmen – insbesondere auf Online-Foren mit Unterstützungsangeboten für Kinder und Jugendliche mit Pflegeverantwortung konzentriert. Berichtet wird über das Thema also fast ausschließlich dort, wo es ohnehin allgegenwärtig ist. Informationen findet man, wenn man nach ihnen sucht; wer sich allerdings nicht explizit mit pflegenden Kindern und Jugendlichen beschäftigt, wird in den Medien aber aktuell keinen Zugang zum Thema finden. 

Kommentare:

Lana R., Betroffene, die ihren Vater pflegt und Gründerin der Internetseite „young-carers.de“:
„Man denkt gar nicht, dass man etwas Besonderes macht, sondern man denkt eben, den Eltern zu helfen, ist etwas vollkommen Normales.“ 

Johanna Bätz, Koordinatorin des DAK-Pflegereports:
„Ohne pflegende Angehörige generell könnte das System so wie es ist ja kaum bestehen. Man ist regelrecht darauf angewiesen, dass eine häusliche Unterstützung erfolgt. [Etwa] zwei Drittel aller zu Pflegenden, die Leistungen beziehen, werden ja bereits im häuslichen Umfeld gepflegt, Tendenz steigend.“  

Ich glaube, das Wichtigste ist tatsächlich, ihnen [Young Carer] verständlich zu machen, dass sie damit nicht allein sind und dass es viele Personen in der Situation gibt. […] Es ist einfach nur wichtig, […] dass wir es schaffen, das Thema in den Köpfen zu verankern [und den Betroffenen] klar zu machen, dass sie sich in der Situation befinden und sie so überhaupt erstmal darauf aufmerksam zu machen, dass sie sich Unterstützung suchen können und dass es auch ihr gutes Recht ist, das zu dürfen. Aber das tut man natürlich nicht, wenn man gar nicht weiß, wo man steht. 

Julia L., Betroffene, die ihre Mutter gepflegt hat:
„[W]ir hatten mal einen Termin […] mit einer Frau von einer […] Pflegeorganisation […], die hat mir ein paar Tricks beigebracht, um es mir einfacher zu machen. Da ging es dann auch um Sachen, die für die Zukunft wichtig sein können, […] wie Umlegen […]. […] Und ansonsten gab es ab einem bestimmten Zeitpunkt eine Haushaltshilfe, die alle zwei Wochen für ein paar Stunden da war und dann eben einmal den Haushalt gemacht hat.“ 

„[J]etzt im Studium wohne ich ja woanders. Trotzdem merke ich auch hier, dass der Druck nicht weg geht. […] Ich war über Weihnachten zu Hause und meine Mama hat den Pflegedienst [, den sie mittlerweile hat,] abbestellt, während ich da war. Das war eine extrem hohe Belastung und das hat mich auch nachhaltig sehr viel beschäftigt […]. Und ich bin tatsächlich auch deshalb früher wieder […] in meine jetzige Heimat gefahren, damit ich aus dieser Belastungssituation rauskomme.“