2022: Top-Thema 01

Die schleichende Abschaffung der Lernmittelfreiheit 

Abstract:

Eigentlich sollen Lernmittel – also vor allem Schulbücher und Übungshefte – für alle Schulkinder in Deutschland kostenlos sein, denn Schulbildung darf nicht vom Geldbeutel abhängen. Doch in vier Bundesländern gibt es bereits gar keine Lernmittelfreiheit für Schulbücher etc. mehr, und der wirtschaftliche Druck auf die anderen Länder, diese Mittel einzuschränken, steigt. Das Thema geht alle Menschen in Deutschland mit schulpflichtigen Kindern an. Dennoch wird darüber in den großen Medien viel zu wenig berichtet. 

Sachverhalt & Richtigkeit: 

Lernmittelfreiheit bedeutet, dass Materialien, die für den Unterricht an öffentlichen Schulen benötigt werden, insbesondere Schulbücher, den Schülerinnen und Schülern kostenlos bereitgestellt werden. Die Lernmittelfreiheit ist eine historisch gewachsene Freiheit, die erstmalig im Jahre 1919 in der Reichsverfassung der Weimarer Republik aufgeführt wurde. So heißt es im Artikel 145: „(…) Der Unterricht und die Lernmittel (…) sind unentgeltlich.“ Damals war es bereits das Ziel, Chancengleichheit zu schaffen und die Schule unabhängig vom Einkommen der Eltern zugänglich zu machen. Heute sind die Bundesländer für die Bildung zuständig, und Lernmittelfreiheit ist als Ziel in einigen Landesverfassungen verankert. Ende der 1960er bis Anfang der 1970er Jahre hatten fast alle Bundesländer die kostenlose Schulbuch-Ausleihe eingeführt. In den letzten Jahrzehnten ist sie in immer mehr Ländern dem Spardruck geopfert worden. 
Grundsätzlich lassen sich drei Kategorien feststellen: Entweder besteht in einem Bundesland Lernmittelfreiheit und benötigte Unterrichtsmaterialien werden kostenlos zur Verfügung gestellt; oder die Lernmittelfreiheit besteht eingeschränkt, das bedeutet, dass durch die Erziehungsberechtigten ein Eigenanteil für die Unterrichtsmaterialien zu leisten ist; oder die Lernmittelfreiheit ist komplett abgeschafft, also Unterrichtsmaterialien müssen komplett selbst bezahlt werden oder gegen Gebühren entliehen werden.
Zur dritten Kategorie zählen vier Bundesländer: Niedersachsen, Sachsen-Anhalt, Rheinland-Pfalz und Saarland. Klassische Lernmittelfreiheit besteht heute nur noch in Baden-Württemberg, Hessen, Thüringen, Sachsen und Mecklenburg-Vorpommern. 
Von der Lernmittelfreiheit ausgeschlossen sind Verbrauchsmaterialien wie Stifte, Papier, Taschenrechner und Mal-Utensilien. Diese müssen in jedem Bundesland von den Erziehungsberechtigten selbst getragen werden. Kinder aus einkommensschwachen Familien erhalten finanzielle Unterstützung zur Deckung der Schulkosten. 
Das Preisvergleichsportal idealo.de hat beispielhaft die Kosten eines Schullebens ermittelt und festgestellt, dass der Bundesdurchschnitt für ein Schulleben bei 20.695,83€ liegt. Eingerechnet sind dabei auch Positionen wie Schulessen, Betreuung, Fahrtkosten, Materialen etc. Auch Schulbücher, die im Mittelpunkt der Lernmittelfreiheit stehen, wurden im Preisvergleich zwischen den Bundesländern betrachtet. Sie machen im Gesamtbetrag eine niedrige Position aus, stechen aber durch die Preisspanne hervor. Während in Mecklenburg-Vorpommern Schulbücher kostenlos sind, sind im Saarland ca. 1.500€ mit in den Kosten eines Schullebens bis zum Abitur-Abschluss einzurechnen. Die Abschaffung der Lernmittelfreiheit stellt dadurch einen weiteren Kostenfaktor für die Erziehungsberechtigten dar.
Auch Lehrerinnen und Lehrer haben durch die Abschaffung der Lernmittelfreiheit Mehraufwand: Silke M., Realschullehrerin für Deutsch und Englisch in Rheinland-Pfalz, berichtet von einem Kampf um das Eintreiben des Büchergeldes in jedem neuen Schuljahr. Dies kannte sie vorher aus ihrer Zeit als Realschullehrerin in Stralsund (Mecklenburg-Vorpommern) nicht; hier musste sie lediglich die ausgeliehenen Schulbücher am Ende des Schuljahres einsammeln und ihren Zustand überprüfen. Nun aber galt es, den Kauf der Schulbücher zu koordinieren, die von den Erziehungsberechtigten selbst beschafft werden sollten, und eventuelle Fehlkäufe zu vermeiden, sowie Leihgebühren für von der Schule ausgeliehene Bücher einzusammeln. Ein Zeitaufwand, der sich über einige Wochen ziehen kann. Dadurch kann es auch sein, dass manche Schülerinnen und Schüler erst Mitte des Schuljahres ihre Bücher haben, berichtet Silke M. 

Relevanz:

Vom Thema Lernmittelfreiheit ist potenziell jede Familie mit Kindern betroffen, und das Thema hängt mit dem durch PISA-Studien belegten Missstand zusammen, dass die Bildungschancen fast nirgendwo so stark von der sozialen Herkunft der Kinder bzw. dem Einkommen der Eltern abhängen wie in Deutschland. Das Thema ist auch verknüpft mit der durch Corona begonnenen Debatte um „digitale Lernmittelfreiheit“: Besteht die Gefahr, dass zukünftige Kosten für Soft- und Hardware von den Erziehungsberechtigten zu tragen sind, ist ein weiteres Auseinandergehen der Schere zwischen Arm und Reich programmiert. 

Vernachlässigung:

Die Debatte um Abschaffung der Lernmittelfreiheit fand zuletzt nach der ersten OECD-Erhebung zu Lernergebnissen von Schülerinnen und Schülern (PISA) im Jahre 2000 statt. Die Ergebnisse der PISA-Studie lagen unter dem weltweiten Durchschnitt und rückten die Bildungspolitik in Deutschland in den Fokus der Medien. Der Umgang mit der Lernmittelfreiheit wurde beiläufig aufgenommen. Durch die Länderkompetenz in Sachen Bildungspolitik ist das Thema Lernmittelfreiheit bundesweit medial kaum vertreten. Auf Länderebene ist zuletzt Berichterstattung über die Diskussion über die Wiedereinführung der Lernmittelfreiheit durch den Berliner Senat aus dem Jahre 2018 zu finden. Im Rahmen des Digitalpakt Schule hat das Thema „Digitale Lernmittelfreiheit“ politisch an Bedeutung gewonnen. Die SPD-Bundestagsfraktion veröffentlichte hierzu im Juni 2020 ein Positionspapier; der Umgang mit der generellen Lernmittelfreiheit wird darin aber ausgeklammert.