2021: Top 9

Menschenrechtsverletzungen an Kindern und Opfern der Terrorgruppe Boko Haram in Nigeria

Abstract:

Leider viel zu oft waren die Nachrichtenkanäle in den letzten Jahren voll von Nachrichten über die schrecklichen Angriffe der Terrorgruppe Boko Haram in Nigeria und seinen Nachbarstaaten. Vor allem mit den Entführungen von Kindern und ganzen Schulklassen machte die Terrorgruppe weltweit auf sich aufmerksam. Doch worüber man kaum etwas hört, ist die Geschichte nach der Geschichte und die Nachricht hinter der Nachricht. Wie ergeht es den Opfern der Terrorgruppe nach den Angriffen und Entführungen? Das nigerianische Militär, welches die Opfer der Gewalt eigentlich schützen soll, stellt nahezu jedes Terroropfer unter den Verdacht, mit Boko Haram zu kooperieren. Dabei wird der Vorwurf der Kooperation dazu genutzt, die Opfer zu foltern und widerrechtlich einzusperren. Viele Kinder, welche durch die Angriffe und Entführungen schon furchtbares Leid erfahren mussten, werden vom Militär ebenfalls nicht verschont. Auch im Rahmen des von internationalen Geldgebern (genannt seien hier beispielhaft die EU, Großbritannien und die USA) geförderten Rehabilitationsprogrammes „Safe Corridor“ kommt es immer wieder zu gravierenden Menschenrechtsverletzungen. Obwohl die EU involviert ist und auch die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wiederholt von den Missständen berichten, fand das Thema kaum Beachtung in den deutschen Medien.

Sachverhalt & Richtigkeit:

Seit dem Jahr 2009 ist die islamistische Terrorgruppe Boko Haram im Nordosten Nigerias aktiv, vor allem in den beiden Bundesstaaten Borno und Adamawa hat die Terrorgruppe viele Gebiete unter ihre Kontrolle gebracht. Die nigerianischen Sicherheitskräfte scheinen mit der Guerilla-Strategie maßlos überfordert und haben oft nur noch vereinzelte Gebiete unter Kontrolle. Vor allem die Bevölkerung leidet unter den Taten der Boko Haram. Über zwei Millionen Menschen wurden bereits vertrieben, einem Großteil der Kinder fehlt der Zugang zu Bildung, es droht eine verlorene Generation. Die UN bezeichnet die Lage in Nigeria als eine der derzeit ernsthaftesten humanitären Notlagen der Welt.

Aufgrund der sich wiederholenden Angriffe auf Schulen in Nordnigeria setzen sich diejenigen Kinder, die noch zur Schule gehen können, dem Risiko aus, in die Fänge der Terrorgruppe zu geraten. Die Mädchen werden oftmals zwangsverheiratet, den Jungen droht die Zwangsrekrutierung als Kindersoldaten. Für die Entführungsopfer stehen Folter und Vergewaltigungen an der Tagesordnung. Doch nicht nur Schulen sind von den Angriffen durch Boko Haram betroffen. Auch der Rest der Bevölkerung leidet stark, immer wieder werden Dörfer ihrer landwirtschaftlichen Erträge beraubt. Dabei werden die Dorfbewohner ebenfalls Opfer von Folter und Vergewaltigung.

Wer der Boko Haram entkommt, muss sich einem Screening-Programm des nigerianischen Militärs unterziehen. Bei diesem Screening-Programm werden die Opfer hinsichtlich ihrer Einstellung zur Boko Haram befragt, insbesondere soll eine mögliche Kooperation mit der Terrororgruppe ausgeschlossen werden. In vielen Fällen ist auch die im Jahr 2013 im Staat Borno aus verschiedenen Bürgerwehren entstandene Bürgermiliz Civilian Joint Task Force (CJTF) mit involviert, die die nigerianischen Sicherheitskräfte im Kampf gegen die Terrorgruppe unterstützt. Zu den Aufgaben der CJTF gehört es primär herauszufinden, wer der Überlebenden von Angriffen der Boko Haram tatsächlich Opfer war und wer die Boko Haram in irgendeiner Form unterstützt haben könnte. Fast zehn Millionen Menschen (Stand 2016: Borno ca. 5,5 Mio.; Adamawa ca. 4 Mio.) stehen unter Generalverdacht in irgendeiner Art und Weise mit Boko Haram kooperiert zu haben. Dabei sind die Verhörmethoden fraglich. Die Opfer der Terrorgruppe werden unter Generalverdacht gestellt und oftmals so lange verhört, bis ein Geständnis der Unterstützung oder Kooperation abgelegt wird. Das mit der CJTF verbündete nigerianische Militär missbraucht ebenfalls seine Schutzpflicht gegenüber der Bevölkerung. Tausende Terroropfer werden rechtswidrig und unter schlechten Hygienebedingungen inhaftiert. Viele der Inhaftierten haben während der Haft keine Möglichkeit, Kontakt zu der Familie oder zu einem Rechtsbeistand aufzunehmen und werden teilweise über mehrere Jahre ohne Anklage festgehalten. Das zeigt auch, wie intransparent und scheinbar willkürlich das Screening-Programm für Außenstehende ist. Auch außergerichtliche Hinrichtungen zeigen, wie willkürlich die Sicherheitskräfte handeln können. Die Nichtregierungsorganisation Human Rights Watch und die UN gehen davon aus, dass zwischen Januar 2013 und März 2019 ca. 3.600 Kinder wegen angeblichen Verbindungen zu Boko Haram vom Militär festgehalten wurden, Amnesty International geht von weit höheren Zahlen aus.

Beispielhaft für die menschenrechtsverachtenden Methoden sei hier eine Geschichte eines von Amnesty International befragten Opfers zu nennen, in welchem berichtet wird, dass das Opfer und sein Bruder von Männern der CJTF verprügelt wurden, während die Soldaten zuschaut haben. Im Anschluss habe man ihnen die Hände auf den Rücken gefesselt und sie kopfüber an einem Baum aufgehängt, weil man den Aussagen nicht glaubte, dass sie nicht mit der Boko Haram kooperiert haben. Die Befragten werden vom Militär in drei Kategorien eingeteilt: Diejenigen, die intensiven Kontakt mit der Terrorgruppe Boko Haram hatten, diejenigen, die nur entfernt mit der Boko Haram zutun hatten und in diejenigen, die man nicht mit der Boko Haram in Verbindung bringen kann. Ein Landwirt, der von der Terrorgrupppe ausgeraubt wurde, gilt beispielsweise als ein entfernter Kontakt. Und auch wenn einem keine Verbindung zu Boko Haram nachgewiesen werden kann, schützt das nicht vor einer weiteren Zeit in Militärgewahrsam. Zusätzlich zu der psychischen Belastung der Opfer, kommen die unzumutbaren Zustände in den Unterbringungen. In einem Bericht von Amnesty International berichten die Befragten von fehlenden Sanitäranlagen, überbelegten Zellen, einer mangelnden Wasser- und Lebensmittelversorgung sowie mangelnder medizinischer Ausrüstung. Viele der Opfer waren unter diesen Umständen teilweise bis zu vier Jahre lang in Militärkasernen inhaftiert, oftmals sind unter den Opfern auch Minderjährige. Schwangere Frauen mussten ihre Kinder ohne medizinischen Beistand alleine in den überfüllten, unhygienischen Zellen gebären. Neben der Folter und der katastrophalen Zustände in den Unterbringungen berichteten viele auch von sexueller Gewalt, vor allem in den Kinderzellen. Zu ihrem eigenen Schutz quetschen sich die Minderjährigen nachts in eine Ecke der Zelle, um sich vor den Übergriffen zu schützen. Insgesamt werden die Opfer des eigentlich zum Schutz gedachten Screening-Programms auf 10.000 geschätzt, darunter viele Minderjährige, die in der Haft gestorben sind.

Bereits im Jahr 2014 berichtete Amnesty International ausführlich von der rechtswidrigen Inhaftierung und Folter der Opfer der Terrorgruppe Boko Haram durch das nigerianische Militär und die Polizei. Schon damals waren grauenvolle Foltermethoden und Misshandlungen ein fester Bestandteil der nigerianischen Polizei- und Militärarbeit. Im Dezember 2017 beschloss die nigerianische Regierung das so genannte Antifoltergesetz, welches den Einsatz von Foltermethoden verbieten und unter Strafe stellen sollte. Allerdings scheitert die Umsetzung des Gesetzes zum einen am Föderalismus Nigerias, da die einzelnen Bundesstaaten in der Verantwortung sind, die beschlossenen Gesetze auch wirklich umzusetzen, andererseits stellen sich die Sicherheitsbehörden selber gegen das Gesetz und üben Gegendruck auf die Regierung aus.
Auch das Rehabilitationsprogramm „Safe Corridor“, das bei der Resozialisierung von Boko-Haram-Kämpfern und -Unterstützern helfen soll, weist Menschenrechtsverletzungen vor. Das Projekt existiert seit 2015 und wird von mehreren internationalen Geldgebern unterstützt, darunter auch die EU, Großbritannien, und die USA. Im Rahmen des Programms werden hauptsächlich nigerianische Jungen und Männer in eine Hafteinrichtung im Bundesstaat Gombe gebracht. Sie alle gelten als „low-risk“ Boko-Haram-Unterstützer, die sich angeblich freiwillig gestellt haben. Doch auch das Programm „Safe Corridor“ bietet den Opfern keinen Schutz vor Menschenrechtsverletzungen. Auch hier berichten die Inhaftierten von einem Mangel an Nahrung und Medizin. Bisher haben um die 270 Menschen das „Safe Corridor“-Programm abgeschlossen, über 600 sind derzeit in Gombe inhaftiert. Viele der Jungen und Männer werden bis zu 19 Monaten ohne richterliche Anklage festgehalten. Im Vergleich zu den anderen Hafteinrichtungen und Camps stellt die Einrichtung zwar eine enorme Verbesserung dar, dennoch kommt es immer wieder zu Menschenrechtsverletzungen. Mindestens sieben Todesopfer hat es auch hier bereits aufgrund der mangelhaften Versorgung gegeben. Der Verdacht, dass das Berufsausbildungsprogramm, welches Bestandteil von „Safe Corridor“ ist, als Zwangsarbeit herausstellen könnte, verhärtet sich laut Amnesty International. Die versprochene Resozialisierung und Rehabilitierung bleibt in den meisten Fällen aus, so dass vor allem den Kindern und Jugendlichen ein perspektivloses Leben bevorsteht. Die EU und die anderen Geldgeber finanzieren eine Haftanstalt für Kinder mit, anstatt ihnen einen Weg zurück in ein normales Leben zu ermöglichen.

Relevanz:

Bereits 2014 hatte Amnesty International in einem Bericht die Umstände in Nigeria angeklagt, erst im Jahr 2017 wurde dann ein Antifoltergesetz beschlossen, welches noch immer nicht greift. Nicht nur für die vielen, zu Unrecht inhaftierten Menschen in Militärgewahrsam stellt Folter ein immer wiederkehrendes Problem dar. In ganzen nigerianischen Staat sind Foltermethoden beim Militär und der Polizei an der Tagesordnung. Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International werden von der nigerianischen Regierung unter Druck gesetzt – immer wieder leidet das dortige Büro und seine Mitarbeiter unter Repressalien – und auch die Geldgeber des „Safe Corridor“-Programms reagierten bisher nicht auf die Missstände. Die UN, welche viele Operationen mithilfe des nigerianischen Militärs durchführt, äußerte sich noch nicht. Lediglich der internationale Strafgerichtshof in Den Haag machte im Dezember 2020 bekannt, ein Ermittlungsverfahren gegen die Terrorgruppe Boko Haram und die Sicherheitskräfte in Nigeria einzuleiten.

Vernachlässigung:

Seit Veröffentlichung des Berichts von Amnesty International tauchte das Thema im Nachrichtenportal ref.ch, bei der österreichischen Presseagentur APA-OTS sowie auf derStandard.de auf. Vor allem in den Leitmedien spielen die Ereignisse in Nigeria bisher keine Rolle, obwohl über ähnliche Vorwürfe im Jahr 2014 und auch über aktuellere Anschuldigungen, vor allem gegen die nigerianische Polizei, durchaus berichtet wurde. Über die Kindesentführungen durch die Terrorgruppe Boko Haram wird prominent in den deutschen Medien berichtet, die Folgen für die Opfer von Boko Haram werden dabei jedoch nicht thematisiert.

Der Juryberichtet konzentriert sich auf die Geschichte nach der Geschichte, die ebenfalls berichtenswert erscheint.

Quellen:

o.A., Angekettet und gefoltert – Nigeria: Hunderte Jungen aus „Horror-Haus“ befreit, 27.09.2019, ZDF,

https://www.zdf.de/nachrichten/heute/nigeria-hunderte-kinder-gefoltert-und-missbraucht-100.html

o.A., Nigerias Militär foltert angeblich Tausende Kinder, 27.05.2020, ref.ch, https://www.ref.ch/news/nigerias-militaer-foltert-angeblich-tausende-kinder/

Johannes Dieterich, Nigerias Armee soll schwere Verbrechen an Kindern begangen haben, 28.05.2020, DerStandard, https://www.derstandard.de/story/2000117752060/nigerias-armee-soll-schwere-verbrechen-an-kindern-begangen-haben

o.A., Amnesty: Polizei und Militär foltern systematisch, 18. September 2014, Stern, https://www.stern.de/politik/ausland/nigeria-amnesty–polizei-und-militaer-foltern-systematisch-3629246.html

Katrin Gänsler, Wenn die Polizei foltert und mordet, 26.06.2020, taz, https://taz.de/Polizeigewalt-in-Nigeria/!5697314/

Stefanie Duckstein, „Welcome to hell fire“ – Folter in Nigerias Sicherheitssystemen, 18.09.2014, Deutsche Welle, https://www.dw.com/de/welcome-to-hell-fire-folter-in-nigerias-sicherheitssystemen/a-17932119

o.A., Grüne fordern nach Amnesty-Bericht Schutz von Kinderrechten in Bürgerkriegsland Nigeria ein, 27.05.2020, APA-OTS, https://www.ots.at/presseaussendung/OTS_20200527_OTS0142/gruene-fordern-nach-amnesty-bericht-schutz-von-kinderrechten-in-buergerkriegsland-nigeria-ein

o.A., Folter in Nigeria, 18.09.2014, AmnestyDE, https://www.amnesty.de/2014/9/18/folter-nigeria

o.A., Militär inhaftiert und foltert tausende Kinder im Kampf gegen Boko Haram, 27.05.2020, AmnestyDE, https://www.amnesty.de/allgemein/pressemitteilung/nigeria-militaer-inhaftiert-und-foltert-tausende-kinder-im-kampf-gegen

Feng Ye, Child Soldiers in Nigeria require immediate assistance, o.A., The Borgen Project https://borgenproject.org/tag/child-soldiers-in-nigeria/,

Skype-Interview: Christian Hanussek, ehrenamtlicher Nigeria-Experte bei Amnesty International DE, 09.07.2020

Kommentar:

 „Wir haben in Nigeria eine desaströse Lage mit Millionen Kindern in einer Kriegssituation und ohne Bildung, das wird fatale langfristige Folgen haben.“ – Christian Hanussek

„Die nigerianischen Sicherheitsbehörden genießen eine kontinuierliche Straflosigkeit, selbst bei schweren Verbrechen wie Folter.“ – Christian Hanussek