2021: Top 8

Blind für Extremismus: Der deutsche Staat und islamistische und rechtsextreme Organisationen unter Türkeistämmigen

Abstract:

Die in der Türkei die Regierung bildenden islamistischen (AKP) und rechtsextremen (MHP) Parteien sowie mit diesen Parteien und ihren Bewegungen vernetzte Verbände in Deutschland wie DİTİB, ATİB und ZMD werden von deutschen Bundes- und Landesministerien und -behörden durch offizielle Zusammenarbeit legitimiert, obwohl zahlreiche Teilorganisationen und Funktionäre klar verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgen und gleichzeitig Dissens unter Türkeistämmi¬gen systematisch zum Schweigen zu bringen versuchen. Diese Tendenzen in der größten Zuwanderergruppe hindern Menschen mit Migrationsgeschichte am demokratischen Engagement in Deutschland – und sind damit von großer Bedeutung für das Zusammenleben in der Bundesrepublik. Islamistische und rechtsextreme Aktivitäten unter Türkeistämmigen sind nicht per se ein vernachlässigtes Thema, wohl aber ist es die Unterstützung und Legitimierung durch deutsche staatliche Stellen und das Fehlen eines Konzepts zur systematischen Erkennung, Benennung, Abgrenzung und Bekämpfung solcher Tendenzen auf allen Ebenen.

Sachverhalt & Richtigkeit:

Die politische Situation in der Türkei spiegelt sich sehr stark unter den ca. 3 Millionen Türkeistämmigen in Deutschland, von denen etwa die Hälfte die türkische Staatsangehörigkeit besitzt (allein oder neben der deutschen).

In der Türkei koaliert die sunnitisch-islamistische Partei AKP des Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoğan mit der extrem nationalistischen, chauvinistischen Partei MHP unter Vorsitz von Devlet Bahçeli, die sich vor allem über Hetze gegen Kurd*innen, Alevit*innen und andere Minderheiten profiliert.

Die AKP ist die mit Abstand stärkste Partei der Türkei, die bei den in Deutschland lebenden türkischen Bürger*innen, die sich an Wahlen in der Türkei beteiligen, regelmäßig die absolute Mehrheit der abgegebenen Stimmen erzielt (2018: 55,7% bei einer Wahlbeteiligung von fast 46% der 1,44 Millionen Wahlberechtigten in Deutschland), insgesamt bei den letzten Parlamentswahlen in der Türkei 2018 dagegen nur noch 42,6%. Die AKP ist daher für Mehrheiten bei Präsidentschafts- und Parlamentswahlen sowohl auf die MHP als auch auf die Stimmen der in Deutschland lebenden Türk*innen angewiesen. In ihrer Regierungszeit hat sich die AKP zunehmend sowohl radikaler islamistisch als auch autoritär-antidemokratisch entwickelt. Wichtiger Be-standteil der AKP ist die Bewegung Millî Görüş, deren auch in Deutschland sehr zahlreichen Vertreter*innen regelmäßig antisemitische und antiwestliche Verschwörungserzählungen verbreiten und jegliche Integration in die „ungläubige“ Gesellschaft ablehnen.

Die Mitgliedschaft der MHP, die bei den Parlamentswahlen 2018 in der Türkei 11,1% der Stimmen erzielte (in Deutschland 8,4%), weist starke Überschneidungen auf mit der Anhängerschaft der in Vereinen organi-sierten „Grauen Wölfe“ (bozkurtlar), die in Deutschland vom Verfassungsschutz beobachtet werden (in Deutschland ca. 10.000-20.000 Mitglieder), im November 2020 in Frankreich verboten wurden und klar als rechtsextrem bezeichnet werden müssen. Die MHP verfügt über einen eigenen Moscheeverband, die „Union der Türkisch-Islamischen Kulturvereine in Europa“ (Avrupa Türk-İslam Birliği, ATİB), der etwa 100 Mo-scheen in Deutschland angehören sollen.

Die AKP und die mit ihr verbündete MHP kontrollieren, zunehmend unter Ausschaltung jeglicher rechtsstaatlicher Prinzipien, sämtliche türkischen staatlichen Einrichtungen – darunter auch das „Direktorium für religiöse Angelegenheiten“ (Diyanet İşleri Başkanlığı), kurz Diyanet, das dem Staatspräsidenten (also R. T. Erdoğan) direkt unterstellt ist und dessen (Staats-)Angestellte alle Imame in der Türkei sind, aber auch die des bei weitem größten Moscheeverbands in Deutschland, der „Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion“ (türkisch Diyanet İşleri Türk İslam Birliği, bekannt unter der türkischen Abkürzung DİTİB). Seit 2018 wird die DİTİB vom Verfassungsschutz auf eine Einstufung als zu beobachtender Verdachtsfall hin überprüft.

Die türkische Außenpolitik unterstützt im Schulterschluss mit dem Emirat Katar die Muslimbrüder im Nahen Osten (Syrien, Jemen, Ägypten, Libyen, Tunesien) und damit eine Vereinigung, die nach Feststellung des Verfassungsschutzes auch in Deutschland Ziele verfolgt, die mit dem Grundgesetz unvereinbar sind. Der Zentralrat der Muslime in Deutschland (ZMD) ist eine Gründung der Muslimbruderschaft und wird von ihr nahestehenden bzw. angehörenden Gruppen beherrscht. In den Bemühungen der Bundesregierung und mehrerer Landesregierungen um einen institutionellen Dialog mit muslimischen Verbänden solidarisieren sich alle Verbände mit denen, die wegen extremistischer Bestrebungen kritisiert werden, und verhindern so deren Ausschluss, da die Regierungen das Scheitern des Dialogs fürchten..

Das Geflecht aus der AKP sowie der AKP, Millî Görüş und der Muslimbruderschaft nahestehenden is-lamistischen Vereinen, aus der MHP und der MHP nahestehenden rechtsextremen Vereinen sowie staatlichen Einrichtungen wie DİTİB ist in Deutschland sehr aktiv, indem es insbesondere missliebige Türkeistämmige in enger Kooperation mit den türkischen diplomatischen Vertretungen bespitzelt, einzuschüchtern und mundtot zu machen versucht, um die weitgehende Gleichschaltung der türkeistämmigen und muslimischen Communities in Deutschland im Sinne der türkischen Politik zu erreichen. Neben dem Agieren in gesell-schaftlichen Strukturen ist der aktive Angriff auf Minderheiten und Oppositionelle der Türkei nicht zu un-terschätzen. So entwickelte beispielsweise das türkische Konsulat in München eine App, bei der man andere türkische Staatsbürger*innen denunzieren kann. In der Vergangenheit sind mehrere Fälle dahingehend be-kannt geworden: Dadurch ist eine Einreise in die Türkei, aber auch das Leben in Deutschland, für viele Menschen mit Risiken verbunden. Diese App ist immer noch nicht verboten worden. Auch sind bereits Fälle bekannt, wo deutsche Staatsbürger*innen durch Denunzierung in der Türkei verhaftet werden. Die Gefahr betrifft aber nicht nur türkische Staatsbürger*innen. Die beschriebenen Vorgänge sind ein gezielter Angriff auf die deutsche Demokratie, betreffen alle Bürger*innen Deutschlands und die nationale Sicherheit. Die genannten Organisationen betreiben systematisch die Untergrabung von Demokratie und Rechtsstaat, nicht nur in der Türkei, sondern auch in Deutschland.

Problematisch und vernachlässigt erscheint hierbei vor allem die Rolle des deutschen Staates, die vielfach auf eine passive oder sogar aktive Unterstützung und Legitimierung solcher Bestrebungen hinausläuft: Auf Bundesebene arbeitet die Regierung mit islamistischen Verbänden zusammen und nimmt es hin, dass diese Verbände in ihrer Gesamtheit oder in Teilen eindeutig antidemokratische Tendenzen verfolgen, und gibt diesen Tendenzen somit Sichtbarkeit und Legitimität. Dies gilt nicht nur für die DİTİB, sondern auch für den ZMD.

So gibt die Zentralmoschee Köln der DİTİB an, dass sie mit dem Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) zusammenarbeitet . Sechs Landesjugendverbände der DİTİB sind Mitglieder in den jeweiligen Landesjugendringen. Auf seiner Homepage beschreibt der ZMD sich selbst unter anderem als politischer Kooperationspartner deutscher Stellen und kann eine beeindruckende Zahl von Institutionen benennen:

„Der ZMD ist Kooperationspartner vieler staatlicher Stellen, Ministerien und zivilgesellschaftlicher Organisationen und Initiativen. Zu nennen wären die Beteiligung an der „Deutschen Islamkonfe-renz“, am Integrationsgipfel der Bundeskanzlerin, an Gremien des  Bundesamtes für Integration und Flüchtlinge, den Dialog auf Leitungsebene im Bundeskriminalamt, Deutscher Verfassungstag, des Bündnis für Demokratie und Toleranz (BfDT), Forum gegen Rassismus (Bundesinnenministe-rium), verschiedenen Landesbeiräte (Länder) und Institutionen, wie z.B. das DFI, den Islamischen Religionsunterricht und anderen Islamforen in Deutschland. Schließlich ist hier auf unsere deutschlandweit geachtete und bewährte Informations- und Öffentlichkeitsarbeit hinzuweisen, wie in den sozialen Medien bei Twitter und Facebook, sowie bei weiteren Medienprojekten wie z.B. „islam.de“ oder unserer Homepage „zentralrat.de“, wo diese Informationen und Öffentlichkeits-arbeit stets aktuell aufbereitet werden.“

Wie verträgt sich dies mit der festgestellten Verfolgung verfassungsfeindlicher Ziele? Die stellv. Vorsitzende des ZMD, Nurhan Soykan, ist Sprecherin des Koordinationsrates der Muslime. Laut ZMD selbst gehören ihm die DİTİB, der Islamrat, VIKZ und der ZMD an.  Eigentlich sollte sie als muslimische Vertreterin künftig das Auswärtige Amt im Team „Außenpolitik und Religion“ beraten. Dies löste Proteste aus, da sie den um-strittenen Al-Quds-Marsch (2014) verteidigte und Islamist*innen vertrat, weshalb das Auswärtige Amt nach massiver Kritik sein Vorhaben nicht umsetzte . Der ZMD steht seit längerem in Kritik, ist jedoch weiterhin Partner der Bundesregierung, obwohl mehrere Verbände des ZMD vom Verfassungsschutz beobachtet werden und der ZMD sich konsequent mit diesen solidarisiert und Kritik als Islamophobie diffamiert.  Der stellvertretende Vorsitzende Mehmet Alparslan Çelebi engagierte sich zuvor im MHP-nahen Verband ATİB, der Mitglied des ZMD ist.  Nach Angaben der Bundesregierung gehört zum ZMD ebenfalls die Deutsche Muslimische Gesellschaft (DMG), die als wichtigste Organisation der Muslimbruderschaft in Deutschland gilt.

Der Bundesregierung ist bekannt, dass Funktionäre der genannten Organisationen erfolgreich an Wahlen zu Integrationsräten teilgenommen haben und vereinzelte Mitgliedschaften seien in Parteien bekannt, die derzeit im Deutschen Bundestag vertreten sind

Tatsächlich treten Listen, die der AKP, der MHP bzw. dem Konglomerat aus AKP und MHP nahestehen, regelmäßig erfolgreich zu Wahlen von Integrations(bei)räten an, was auch an der sehr niedrigen Wahlbetei-ligung anderer Herkunftsgruppen liegt. Auch hierdurch gewinnen diese Gruppen Legitimität und werden als Ansprechpartner der deutschen Politik und Verwaltung bis auf die kommunale Ebene sichtbar. Mitunter schalten auch deutsche öffentliche Stellen Anzeigen in türkischen Printmedien, in denen gegen Minderheiten gehetzt und die Integration konterkariert wird, mutmaßlich in Unkenntnis der betreffenden Inhalte aufgrund der Sprachbarriere.

Ebenfalls kommt es vereinzelt zu Beitritten, auch in größeren Gruppen, zu im deutschen Bundestag ver-tretenen Parteien, um die deutsche Politik vor Ort unmittelbar im entsprechenden Sinne zu beeinflussen (worüber dann, allerdings fast ausschließlich lokal und weitgehend ohne Kontext, auch berichtet wird). 2016 lehnte die CDU-Antragskommission vor dem Bundesparteitag einen Antrag zweier Berliner Kreisverbände und des Brüsseler Auslandsverbandes ab, die Unvereinbarkeit der Mitgliedschaft in der CDU mit u. a. der in AKP und Millî Görüş explizit festzuschreiben.

In einigen Bundestagsdebatten haben Politiker*innen aus verschiedenen Parteien eingeräumt, dass trotz all der Jahre und Vorkommnisse bislang von Politik, Parteien und Verwaltung kein Konzept oder konkrete Maßnahmen für ein entschiedenes Vorgehen gegen türkischen Rechtsextremismus und Islamismus in Deutschland erarbeitet und verabschiedet wurde, obwohl seit längerem entsprechender Bedarf dahingehend vorliege.

Gründe für eine fehlende klare Positionierung gegen antidemokratische Strömungen können sein:

  • Unkenntnis der Zusammenhänge und Akteure, auch der türkischen Sprache, so dass Doppel-züngigkeit (in deutschen Veröffentlichung zahm und loyal, in türkischen oder arabischen anti-semitisch, antiwestlich, gegen Minderheiten hetzend) erfolgreich praktiziert werden kann bzw. übersehen wird.
  • Erwartung, über die Verbände institutionell mäßigend auf die türkeistämmige und übrige mus-limische Bevölkerung einwirken zu können
  • Staat und politische Parteien mit Regierungsverantwortung sind konfliktscheu im Umgang mit der türkischen Regierung, von der sich Deutschland insbesondere durch das Flüchtlingsabkommen abhängig gemacht hat

Ein fehlendes klarer Konzept zur Definition von Mindeststandards in Bezug auf Demokratie und Men-schenrechte von Seiten der Bundes- und Länderebene hat zugleich massive Probleme auf der Ebene der Kommunen und der zivilgesellschaftlichen, aber staatliche unterstützten Strukturen (z. B. Jugendringe) zur Folge. Diese sehen ihrerseits keine Handhabe zum Vorgehen gegen islamistische und/oder rechtsextreme Verbände angesichts der Tatsache, dass übergeordnete Stellen deren Einbeziehung mindestens tolerieren oder sogar aktiv unterstützen.

Relevanz:

Die Türkeistämmigen sind mit 3 Millionen die größte – oder, bei Betrachtung jenseits heutiger Staatsgrenzen, nach den aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion stammenden Russischsprachigen die zweitgrößte – Minderheitengruppe in Deutschland. Vorgänge innerhalb dieser Gruppe, die, von der Türkei aus geschürt oder gesteuert, der Integration und Teilhabe dieser Gruppe entgegenwirken, antidemokratischen Tendenzen Vorschub leisten und gegen andere Minderheiten hetzen, sind per se relevant.

Wenn der deutsche Staat sowie mit dem deutschen Staat verbundene Einrichtungen wie politische Parteien mit antidemokratischen Akteur*innen ersichtlich zusammenarbeiten und diesen so Legitimation verschaffen, hat dies massive negative Auswirkungen auf türkeistämmige Akteur*innen, sowohl diejenigen, die für eine solche Beeinflussung offen sind und darin bestärkt werden, wie auch auf diejenigen, die nicht einverstanden sind und angesichts der offenkundigen Duldung bzw. Unterstützung demokratiefeindlicher Tendenzen durch deutsche Behörden und Parteien demotiviert und ihrerseits der deutschen Gesellschaft entfremdet werden.

Für viele in Deutschland lebende Türkeistämmige, die sich aktiv für die Demokratie und die Bürger-, Menschen- und Minderheitenrechte in der Türkei und unter den in Deutschland lebenden Türkeistämmigen einsetzen wollen und vielfach als Exilant*innen besonders auf „safe spaces“ angewiesen sind, bedeutet die derzeitige Situation eine akute Bedrohung, mindestens aber wird ihnen die grundgesetzlich garantierte Freiheit der Meinungsfreiheit genommen.

Schließlich betrifft dies auch alle anderen migrantischen Gruppen, die von einer massiven Privilegierung türkischer staatsnaher Gruppen in den Dialogbemühungen des deutschen Staates Kenntnis nehmen und ebenfalls dadurch entmutigt werden. Dies gilt angesichts von im islamistischen Bereich verbreiteten anti-semitischen Mustern insbesondere auch für die jüdischen Menschen in Deutschland.

Durch die Einflussnahme islamistischer und/oder rechtsextremer Organisationen und Einzelpersonen (z. B. auf den Listen deutscher Parteien gewählter Mandatsträger*innen) wird außerdem die deutsche Politik von der Bundes- bis zur kommunalen Ebene negativ beeinflusst.

Vernachlässigung:

Die Rolle der Türkei und türkischer staatlicher Einrichtungen wie Diyanet sowie türkischer Parteien wie der AKP und der MHP bzw. der „Grauen Wölfe“ in Deutschland ist nicht grundsätzlich vernachlässigt, es gibt hier immer wieder Berichte, auch wenn sie nicht unbedingt ein Gesamtbild der Aktivitäten des Konglomerats aus islamistischen und extrem nationalistischen Organisationen unter den in Deutschland lebenden Türkei-stämmigen aufzeigen. Vernachlässigt ist aber die Rolle deutscher staatlicher Einrichtungen (Ministerien, nachgeordnete Behörden, Kommunalverwaltungen) und staatlich unterstützter zivilgesellschaftlicher Strukturen, die faktisch das besagte Konglomerat aktiv unterstützen oder doch legitimieren.

Ebenfalls spielt in der Berichterstattung keine Rolle, dass durch den möglicherweise bewussten Verzicht auf ein klares Konzept zur Benennung, Abgrenzung und Bekämpfung demokratiefeindlicher Organisationen unter in Deutschland lebenden Personen mit Migrationshintergrund kommunalen wie auch zivilgesell-schaftlichen Organisationen praktisch jede Handhabe entzogen wird, Organisationen zu kritisieren oder gar zu sanktionieren, die doch vom Staat offenbar geduldet, wenn nicht sogar aktiv gefördert werden.

Möglicherweise spielen auch bei Medienvertreter*innen ähnliche Motive eine Rolle, wie sie für die Politik skizziert wurden, namentlich Unkenntnis und die Sorge vor negativen Reaktionen.