2021: Top 7

Rassismus und Kolonialismus: Blinde Flecken im Schulunterricht

Abstract:

Das Jahr 2020 war auch von Rassismus-Debatten geprägt – endlich, wie viele Betroffene sagten, die seit langem eine stärkere Auseinandersetzung damit gefordert hatten. Dabei kommt unter anderem ans Licht, dass historisches Wissen über die gewaltvolle Geschichte des deutschen Kolonialismus wenig verbreitet ist. Im Schulunterricht wird wenig darüber vermittelt, und wenn, dann überwiegen europäische und weiße Perspektiven. Schulbücher verschiedener Fächer enthalten zudem auch heute noch rassistische Ausdrücke und klischeehafte Darstellungen, die unterschwellig Rassismus reproduzieren. Medien haben über diese Problematik vereinzelt berichtet, bislang wurde aber keine größere öffentliche Debatte angestoßen. Diskutiert wird in erster Linie über die Verwendung rassistischer Begriffe. Dabei ist der unterschwellige Rassismus, der sich etwa in Stereotypen ausdrückt, nach Einschätzung von Experten das größere Problem und bislang ein auch medial unterschätztes Thema.

 Sachverhalt & Richtigkeit:

Rassistische Stereotype und ein unreflektierter Umgang mit der Geschichte des Kolonialismus begegnen uns noch immer in vielen Schulbüchern. Trotz immer wiederkehrender Kritik sind Experten zufolge nur sehr langsame Verbesserungen zu beobachten. Ein besonderes Problem ist, dass Schulbücher aus Kostengründen in der Regel viele Jahre lang verwendet werden. Selbst wenn Probleme erkannt und korrigiert werden, kommt der Wandel deshalb nur mit sehr großer Verzögerung bei neuen Generationen von Schülerinnen und Schülern an.

Die deutsche Kolonialgeschichte ist Schülerinnen und Schülern, aber auch vielen Erwachsenen in Deutschland sehr wenig bekannt und bewusst. Konkret geht es um die Inbesitznahme auswärtiger Territorien, die Unterwerfung, Vertreibung, Misshandlung und Ermordung der ansässigen Bevölkerung durch Kolonialherrschaft sowie um die daraus erzielten Profite.

In deutschen Lehrplänen und Schulbüchern werde dieser Teil der deutschen Vergangenheit vielfach unzureichend dargestellt, kritisiert etwa die Afrikawissenschaftlerin Josephine Apraku. Im Deutschlandfunk Kultur sagte sie, in der Gesellschaft beobachte sie die Haltung, dass die deutsche Kolonialgeschichte abgeschlossen sei und keine Auswirkungen mehr auf die Gegenwart habe. Dem sei jedoch nicht so. Oft werde Kolonialismus in der Schule nur im Zusammenhang mit dem Imperialismus betrachtet, wichtiger wäre aber, den Zusammenhang zwischen der Kolonialherrschaft und der Entstehung von Rassismus aufzuzeigen. Die Perspektive müsste also eine gesellschaftliche und nicht nur eine historisch-wirtschaftliche sein, erklärt die Forscherin.

Einige neuere Geschichtsbücher widmen dem Thema dem Bericht zufolge schon etwas mehr Raum, genannt wird ein Beispiel aus Sachsen-Anhalt. Verändert worden sei aber nur die Ausgabe für Gymnasien. Im entsprechenden Buch für die Realschule stehe kein einziger Satz zum Kolonialismus. Wie sich dies im Einzelnen in den verschiedenen Bundesländern und Schulformen verhält, wäre eine weitere Recherche wert.

Entscheidend ist aus Sicht der Kritiker und Kritikerinnen dabei nicht nur, dass der Kolonialismus in ausreichendem Umfang thematisiert wird, sondern vor allem, aus welcher Perspektive darauf geblickt wird. Vielfach dominiere die europäische und die weiße Perspektive. Oft gehe es in den Schulbüchern auch um die Auseinandersetzung der verschiedenen Kolonialmächte untereinander. Zeitzeugenberichte aus der kolonisierten Bevölkerung und andere Berichte von Menschen, die von der Gewalt und dem Rassismus betroffen waren, seien dagegen sehr selten. So werde auch der deutsche Völkermord an den Herero und Nama in Namibia mit mehreren zehntausend Toten nicht ausreichend thematisiert. Am Ende der Schulzeit wüssten viele Absolventen nichts darüber.

Als Reaktion auf diesen Mangel wurden in jüngster Zeit von verschiedener Seite Zusatzmaterialien erarbeitet. Die Rassismus-Forscherin Elina Marmer hat 2015 mit weiteren Autoren einen rassismuskritischen Leitfaden zur Analyse und Erstellung von Lernmaterialien veröffentlicht. Ein weiteres Beispiel ist die Unterrichtsreihe „Koloniale Kontinuitäten“, erstellt vom Welthaus Bielefeld mit Unterstützung des Bundesentwicklungsministeriums. Ein Schwerpunkt liegt hier auf den Bezügen zur Gegenwart.

Der Rassismus der heutigen Zeit ist im vergangenen Jahr verstärkt zum Gegenstand öffentlicher Debatten geworden. Auslöser waren die Ermordung des schwarzen Bürgers George Floyd durch einen Polizisten in den USA und die anschließenden internationalen Proteste. Im Zuge dieser Protestbewegung schrieben Aktivistinnen auch Petitionen an die Schulministerien der deutschen Bundesländer. Darin fordern sie, sowohl die Kolonialgeschichte als auch gegenwärtigen Rassismus stärker im Unterricht zu thematisieren.

Rassistische Stereotype in Schulbüchern und anderen Unterrichtsmaterialien gibt es immer noch. In einem aktuellen Deutschbuch gab es beispielsweise Aufgaben zum Thema „Jugendsprache“, für die der Herausgeber im Jahr 2020 kritisiert wurde. Schülerinnen und Schüler wurden unter anderem aufgefordert, ein Gedicht in so genanntem „Kanakisch“ laut in der Klasse vorzutragen, gemeint war damit ein stark vereinfachtes und fehlerhaftes Deutsch, das bestimmten Migrantengruppen in Deutschland zugeschrieben wird. Die Westermann-Verlagsgruppe erklärte, die Aufgabe sei satirisch gemeint gewesen, entschuldigte sich und zog das Heft zu zurück.

In Sozialkundebüchern werden immer wieder vorherrschende Klischees von Sinti und Roma reproduziert. Diese seit vielen Jahrhunderten in Deutschland beheimateten Volksgruppen werden beispielsweise auf Geschichten vom „fahrenden Volk“ reduziert. Ihre Diskriminierung und historische Verfolgung sind dagegen nur selten Thema. In manchen Atlanten und Biologiebüchern ist im Hinblick auf Menschen auch heute noch von „Rassen“ die Rede. Kolonialrassistische Bezeichnungen wie „Mischling“ oder das N-Wort – das N-Wort ist im Jahr 2021 in den Duden aufgenommen worden – sowie daraus abgeleitete Zuschreibungen aus einer wissenschaftlich widerlegten „Rassenlehre“ tauchten noch immer in Schulbüchern auf, berichtet Modupe Laja vom „Netzwerk Rassismus an Schulen“ (Neras) bereits 2013. Sie kritisiert damals wie heute, dass eine von der Forschung sehr umfassende rassismuskritische Aufarbeitung von Sprache, Themen und deutschem Kolonialismus nicht weitreichend genug in die Schulbuchinhalte der Verlage einfließen. Eine Ursache dafür sei, dass Entscheidungen immer noch zum Großteil von Mitgliedern der weißen Mehrheitsgesellschaft getroffen würden, die für die Notwendigkeit einer Umschreibung noch nicht ausreichend sensibilisiert seien.*

Weiße Menschen werden in Schulbüchern überwiegend als gebildet, wohlhabend und unabhängig dargestellt, dunkelhäutige Menschen werden dagegen häufiger als unzivilisiert und wenig eigenständig gezeigt. Dieser unterschwellige Rassismus bestehe fort, auch wenn eindeutig rassistische Begriffe inzwischen häufig entfernt würden, schrieben die Forscher Elina Marmer und Papa Sow 2015 in einer Studie zu deutschen Schulbüchern: „Durch kosmetische Korrekturen wird Rassismus beinahe bis zur Unkenntlichkeit verschleiert und dadurch schwer erkennbar oder angreifbar. Seine gewaltvolle Wirkung wird jedoch nicht geschmälert.“

„Zudem wird dabei die Zielgruppe verfehlt, denn es wird davon ausgegangen, dass es sich hinter den Büchern um deutsche, weiße und christliche Schülerinnen und Schüler handelt“, gibt Christian Kopp von „Postkolonial Berlin“ zu bedenken.

Auch der Zentralrat der Juden kritisiert seit Jahren Schulbuchinhalte und weist auf antisemitische Inhalte hin. „Es gibt dort zuweilen Bilder, die von antisemitischen Stereotypen geprägt sind und damit eher an den ’Stürmer’ erinnern, als dass sie eine sachliche Darstellung bieten würden“, kritisiert Zentralratspräsident Josef Schuster.

Die Afrikawissenschaftlerin Apraku stellt im Interview mit der „taz“ klar, dass Änderungen nicht von einem Tag auf den anderen auftreten können. „Es gibt diesen Wunsch, perfekte oder „rassismusfreie“ Lehrmaterialien zu haben. Aber vor dem Rassismus und den Kategorien, die rassistische Ursprünge haben, gibt es so schnell kein Entkommen“. Dennoch liefert sie Lösungsansätze. „Was wir machen können, ist, uns auf den Rassismus zu beziehen und mit Schüler*innen eine kritische Perspektive einnehmen, um ihn zu dekonstruieren.“

Falilat Ibrahim ist in Deutschland geboren und aufgewachsen, ihr Vater kommt aus Nigeria. Sie berichtet von ihren negativen Erfahrungen in der Schulzeit aufgrund ihrer Hautfarbe. Unterschwelliger Rassismus ist auch nach ihrer Einschätzung leider ein gängiger Bestandteil der Schulbücher. Betroffene wie sie fühlen sich täglich durch diskriminierende Begriffe und Darstellungen konfrontiert und benachteiligt. So wird Afrika in den meisten Büchern immer nur als der von Armut und Hungersnot geplagte Kontinent dargestellt. „Bei solchen Bildern wurde ich oft schräg angeguckt und musste mir viel gefallen lassen, gerade in Bezug auf Armut. Von den Lehrern und Lehrerinnen hätte ich mir mehr Empathie gewünscht und dass sie mir zur Seite stehen und über das Bild aufklären“, sagt Ibrahim. „Tatsächlich war es jedoch so, dass ich mit ihnen über Kolonialismus diskutiert habe und dabei als ahnungslos dargestellt wurde, während sie ihr eigenes Wissen keineswegs anzweifelten“.

Auch viele Lehrkräfte seien unterbewusst rassistisch eingestellt und erschwerten den Betroffenen die Schulzeit, erklärt Ibrahim. „Wenn jemand direkt rassistisch agiert und sich dessen bewusst ist, finde ich es besser, als wenn jemand Rassismus ablehnt, mich jedoch im nächsten Moment fragt, wo ich herkomme und sich dabei des Rassismus nicht bewusst ist“.

Relevanz:

Unzureichender oder von Stereotypen geprägter Unterricht ist nicht nur für Schülerinnen und Schüler ein Problem. Die Folgen betreffen die gesamte Gesellschaft. Wenn etwa der Völkermord an den Herero und Nama im Unterricht nicht behandelt wird, so kann auch eine Aufarbeitung dieser Vergangenheit nur schwer gelingen. Denn wenn das grundlegende Wissen fehlt, kann auch keine Auseinandersetzung folgen. Gleiches gilt für fehlendes Wissen über Rassismus. Wenn die Schule kein Problembewusstsein schafft, sondern selbst Stereotype reproduziert, kann das Problem gesellschaftlich nicht gut bearbeitet werden. Vielmehr werden rassistische Handlungen, Bilder und Vorstellungen festgeschrieben und manifestiert.

Besonders schwerwiegend sind die Folgen für Schülerinnen und Schüler, die selbst von rassistischer Diskriminierung betroffen sind. Sie finden ihre Perspektiven in Schulbüchern nicht wieder und erfahren Diskriminierung und Herabsetzung damit nicht nur in ihrem eigenen Alltag, sondern dazu noch von staatlich geprüfter Stelle aus dem Schulbuch.

 Vernachlässigung:

Im Zusammenhang mit dem Mord an George Floyd und den Protesten der Bewegung „Black Lives Matter“ war das Thema Rassismus im Jahr 2020 deutlich präsenter als zuvor. Auch die Auseinandersetzung mit Alltagsrassismus in Deutschland war deshalb häufig ein Thema. Ebenso gab es eine Auseinandersetzung über den Umgang mit Kinderbüchern, die rassistische Begriffe enthalten. Zur Frage, wie Kolonialismus und Rassismus in Schulen und in Unterrichtsmaterialien thematisiert werden, und ob sich dort unterschwelliger Rassismus findet, gab es dagegen vergleichsweise wenig Berichte, sodass auch keine öffentliche Debatte entstand.

Über die Kritik am Abiturheft aus der Westermann-Verlagsgruppe berichteten 2020 die SZ und rtl.de. Anfang 2021 beschäftigte sich die ZEIT mit rechtsradikalen und antisemitischen Inhalten in Schulmaterialien. Dabei wurde auch die Zulassung von Unterrichtsmaterialien problematisiert, die in den Bundesländern sehr unterschiedlich geregelt ist. Die Radiosender Deutschlandfunk Kultur und SWR2 thematisierten in einzelnen Beiträgen den Umgang mit der Kolonialgeschichte in der Schule. Außerdem erschienen dazu ein Bericht und ein Interview in Migazin, einem Online-Fachmagazin für Migration und Integration.

Bei den benannten Themen handelt es sich um langfristige Missstände, über die typischerweise selten berichtet wird, wenn es keinen tagesaktuellen Anlass gibt. Angesichts der dauerhaft hohen Relevanz erscheint es jedoch lohnend, dieses Thema auch unabhängig von der Tagesaktualität stärker aufzugreifen.

*Zitat von Modupe Laja am 04.01.2022 korrigiert

 Quellen:

 Interviews:

– Dr. Regine Meyer-Arlt, Presseabteilung Westermann-Verlag
– Tahir Della, Pressesprecher ISD-Bund e.V.
– Christian Kopp, Pressesprecher Berlin Postkolonial
– Ibrahim, Falilat & Atiye, Samuel; Betroffene
– Modupe Laja, Initiatorin „NeRaS“ und offener Brief 2013

Brüntjen, Jana-Sophie: Eine weiße Geschichte. Wie die deutsche Kolonialgeschichte an Schulen unterrichtet wird. Migazin, 23.9.2020, https://www.migazin.de/2020/09/23/eine-geschichte-wie-kolonialgeschichte-schulen/

Fuchs, Christian und Schramm, Simon: Verdeckte Propaganda, Die Zeit, 7.1.2021, https://www.zeit.de/2021/02/zulassung-schulbuecher-rechtsextremismus-texte-unterwanderung-lehrmaterialien-propaganda

Fugah, Abigail und Kurztusch, Miriam: Deutsche Kolonialgeschichte & „Black History“ sowie Anti-Rassismus in NRW unterrichten!, Petition an NRW-Schulministerin Gebauer, https://www.change.org/p/deutsche-kolonialgeschichte-black-history-sowie-anti-rassismus-in-nrw-unterrichten-rassismus-blacklivesmatter-blackhistoryindeutschland sowie https://blackhistoryindeutschland-change.org/

Kniestedt, Fanny: Kein Platz für deutsche Kolonialgeschichte?, Deutschlandfunk Kultur, Zeitfragen, 15.7.2020, https://www.deutschlandfunkkultur.de/geschichtsunterricht-kein-platz-fuer-deutsche.976.de.html?dram:article_id=480566

Laja, Modupe u.a.: Offener Brief an die Schulbuchverlage, 2013, https://www.africavenir.org/de/newsdetails/archive/2013/october/article/afrikabild-in-schulbuechern-offener-brief-an-die-schulbuchverlage-westermann-schroedel-diesterweg/

Lueg, Andrea: Kolonialgeschichte im Schulunterricht: Zu weiße Perspektive?, 23.1.2021, SWR2 Wissen,  https://www.swr.de/swr2/wissen/kolonialgeschichte-im-schulunterricht-zu-weisse-perspektive-swr2-wissen-2021-01-23-100.html

Marmer, Elina und Sow, Papa (Hrsg.): Wie Rassismus aus Schulbüchern spricht – Kritische Auseinandersetzung mit Afrika-Bildern und Schwarz-Weiß-Konstruktionen in der Schule. Beltz 2015

Nietfeld, Joana: Rassismus in Schulbüchern. Wie Diskriminierung beigebracht wird. die tageszeitung, 24.4.2019, https://taz.de/Rassismus-in-Schulbuechern/!5587743/

Starzmann, Paul: Wie Kinder Rassismus erlernen, Der Tagesspiegel, 16.07.2020, https://plus.tagesspiegel.de/wissen/diskriminierung-in-der-bildung-wie-kinder-rassismus-erlernen-23397.html

Westermann Gruppe: Stellungnahme zur Kritik an „Schroedel Abitur Deutsch in der Einführungsphase“, 9.7.2020 https://www.westermanngruppe.de/detailansicht/stellungnahme-zur-kritik-an-schroedel-abitur-deutsch-in-der-einfuehrungsphase/


Kommentare:

 Wenn es bis in die Gegenwart keine gesellschaftliche Anerkennung für deutschen Kolonialismus gibt, werden wir diesen auch nicht in Unterrichtsmaterial finden.“  (Josephine Apraku, Afrikawissenschaftlerin)

 „Schulbücher sollen helfen, mündige und reflektierte Bürger*innen auszubilden. Aber sie reproduzieren häufig rassistische Inhalte.“ (Joana Nietfeld, Autorin der taz)