2021: Top 6

Fehlende psychologische Betreuung von Geflüchteten in den ersten 18 Monaten nach ihrer Ankunft in Deutschland

Abstract:

Im Jahr 2019 beantragten 146.619 Personen Asyl in Deutschland. Die Universität Leipzig hat in einer Studie aus dem Jahr 2019 belegt, dass etwa die Hälfte aller Antragsteller*innen psychisch belastet sind. Der Weg zur einer psychologischen Betreuung in den ersten 18 Monaten nach der Antragstellung birgt viele Hürden. Angefangen mit rechtlichen Hürden, kulturellen Unterschieden und Sprachbarrieren bis hin zum Mangel an Therapieplätzen. Durch die Covid-19 Pandemie hat sich die psychische Belastung der Geflüchteten verstärkt. Fachleute bemängeln zudem ein niedrigschwelliges therapeutisches Angebot für Geflüchtete. Die mediale Aufarbeitung für die Situation der Geflüchteten wird jedoch vermisst.

Sachverhalt & Richtigkeit:

Im Jahr 2019 wurden in Deutschland 146.619 Asylsuchende registriert. Ein Großteil der Asylsuchenden kamen aus den Herkunftsländern Syrien, Arab. Republik (27,3%), Irak (9.5%) und der Türkei (7,4%)“. Die Anzahl der psychisch Erkrankten unter den Asylsuchenden lässt sich empirisch schwer erfassen, was daran liegt, dass es wenig repräsentative Zahlen gibt. Jedoch wurde 2019 in einer Erstaufnahmeeinrichtung in Leipzig eine Studie mit 570 Proband*innen durchgeführt, von denen 48,7% eine psychische Erkrankung aufwiesen. Eine somatoforme Störung konnte bei 31% der Proband*innen festgestellt werden, 22% wiesen eine depressive Erkrankung auf und bei 35% wurde eine posttraumatische Belastungsstörung (PTBS) nachgewiesen. Jedoch ist anzunehmen, dass nahezu jede Person, die eine Fluchterfahrung durchlebt hat, traumatisiert ist und eine psychologische Betreuung von Notwenigkeit wäre. „Verschiedene psychische Erkrankungen wie posttraumatische Belastungsstörungen, Angsterkrankungen und Depressionen sowie auch Psychosen treten bei Geflüchteten häufiger als in der Allgemeinbevölkerung auf, was auf die vielfältigen körperlichen und psychischen Belastungen zurückzuführen ist, denen Flüchtlinge häufig ausgesetzt sind“, berichtet Prof. Andreas Heinz von der Deutschen Gesellschaft für Psychiatrie und Psychotherapie, Psychosomatik und Nervenheilkunde (DGPPN).

In den ersten 18 Monaten des Aufenthalts einer geflüchteten Person hat diese im Einzelfall einen Anspruch auf eine Therapie, wenn diese gemäß § 6 Abs. 1 Asylbewerberleistungsgesetz (AsylbLG) „zur Sicherung der Gesundheit unerlässlich“ ist. Der hier relevante § 6 AsylbLG wird stark restriktiv ausgelegt.

Der rechtliche Weg zu einer Therapie verläuft wie folgt. Therapeut*in oder Ärzt*in kann einen Antrag auf die Kostenübernahme der Therapie stellen. Um diesen Antrag überhaupt erst stellen zu können, muss die betroffene Person einen Krankenschein beim zuständigen Sozialamt beantragen, sofern er/sie ihre Krankenkassenkarte noch nicht erhalten hat. Dies stellt die erste Hürde auf dem Weg zur psychologischen Betreuung von geflüchteten Personen dar. Auch, wenn Geflüchtete eine Krankenkassenkarte erhalten, so erhalten sie damit zunächst eine Grundversorgung. Solange nicht geklärt ist, wer dann die Kosten für die Therapie übernimmt, nimmt kaum ein*e Therapeut*in die Behandlung auf.

Allerdings werden auch nicht alle Behandlungsformen vom Sozialamt erstattet, so dass die Geflüchteten in vielen Fällen eine Minimalversorgung erhalten. Auch hier wird der Anwendungsbereich wiederum eingeengt. Geflüchtete ohne legalen Aufenthalt in Deutschland fallen rechtlich ebenso in den Anwendungsbereich des AsylbLG. Auch sie müssen im Vorhinein einen Krankenschein beantragen. Die Beantragung erfolgt auch beim Sozialamt, welches dazu verpflichtet ist, die Person bei der Ausländerbehörde zu melden. Dies hat im Regelfall eine Abschiebung zur Folge. Menschen ohne rechtlichen Aufenthaltsstatus sind also von vornherein schutzlos gestellt.

Des weiteren gibt es eine eruopäische Richtlinie (RL 2013/33/EU), welche besagt, dass bei Geflüchteten, die besonders vulnerabel sind, also stark traumatisiert (Opfer von Menschenhandel usw.), gewährleistet werden muss, dass eine Psychotherapie bezahlt wird.Hier stellt sich demnach die Frage, ob der psychotherapeutische Umgang von Deutschland mit Geflüchteten europarechtswidrig sein könnte.

Ein weiterer Punkt sind die vielen Sanktionstatbestände im Asylbewerberleistungsgesetz. Zum Beispiel in den sogenannten „Dublin“-Fällen. Wenn eine Person ihren Fuß auf europäischen Boden auf der Flucht zuerst zum Beispiel in Italien gesetzt hat, kann Deutschland diese Person sanktionieren, indem sie ihr unter Umständen alle, zumindest jedoch die Leistungen des § 6 AsylbLG, der die psychotherapeutische Behandlung umfasst, streicht. Die Begründung hierfür ist, dass ein anderes Land (in diesem Fall Italien) für die Person zuständig sei. Auch wenn eine Person ihren Mitwirkungspflichten im ausländerrechtlichen Verfahren nicht nachkommt, können ihr die Sozialleistungen entzogen werden, die über das absolut zur Existenzsicherung nötige Maß hinausgehen, was einen Abbruch einer Therapie zufolge hätte.

Grundsätzlich muss zunächst entschieden werden, ob es sich um eine akute Krankheit oder eine chronische Krankheit mit akuten Symptomen/Auswirkungen handelt; auch hier gibt es einen Anspruch auf Behandlung.  Grundsätzlich gebe es den Weg zu einer Therapie, sagen Thomas Zitzmann (stellv. Geschäftsführer Flüchtlingshilfe Köln) und Dr. Sophia Berthuet (Abteilungsleiterin Arbeit mit Frauen und Geflüchteten bei der NGO Condrobs), jedoch hänge es sehr stark von dem Einsatz der Flüchtlingsbetreuer*innen ab. Häufig sei jedoch ein Betreuer für 100 Geflüchtete zuständig und die Schritte zu einer Therapie zeitaufwendig, was die Hürden für psychotherapeutische Hilfe in der Realität zu hoch mache. Die betreuende Fachkraft müsste dafür sorgen, dass der Fall „durchgedrückt“ wird, und müsste eine besondere Dringlichkeit nachweisen. Zusätzlich bedarf es eines psychologischen Gutachtens, das dann von einem Amtsarzt geprüft wird. Mit einem Anwalt könne man die Bewilligung einer Therapie auf jeden Fall durchsetzen. In der Regel sei der Weg einfach zu kompliziert, sagt Dr. Berthuet: „Da ist einfach zu viel Platz für Willkür. Es gibt definitiv keine adäquate niedrigschwellige therapeutische Versorgung, die dringend notwendig wäre“.

Auch die Sprachbarriere stellt eine Hürde bei der psychologischen Betreuung dar. Es mangelt an muttersprachlichen Therapeut*innen und Dolmetscher*innen, die eine Behandlung ermöglichen.

Viele Therapeut*innen bevorzugen Einzelgespräche ohne externe Begleitperson, um die Intimität zu wahren, und entscheiden sich demnach bewusst gegen die Behandlung von Geflüchteten.

„Viele niedergelassene Therapeuten tun sich schwer, mit Dolmetschern zu arbeiten. Ich kann das auch aus eigener Erfahrung verstehen, weil man einfach oft nicht genau weiß, wie gut und professionell dann der Dolmetscher arbeitet“, sagt Zitzmann. Außerdem sei oft nicht geklärt, wer die Kosten für das Dolmetschen in der Therapie übernimmt, den Krankenkassen sei dieser Posten nicht zugeordnet, erklärt Dr. Berthuet. „Oft trauen sich die Geflüchteten auch gar nicht, mit einem Dolmetscher aus ihrem Kulturkreis zu arbeiten, weil sie Angst davor haben, es könnte etwas nach draußen gelangen. Ich habe deswegen selbst erst neulich für eine Afrikanerin auf Französisch gedolmetscht.“

Eine weitere Hürde auf dem Weg zur psychologischen Betreuung sind die kulturellen Unterschiede. Es fehlt den Geflüchteten an einem Zugang zu dem Thema, da Therapien in ihren Kulturkreisen häufig negativ behaftet sind. Die Hemmungen, sich behandeln zu lassen, sind hoch. Oft zeigen deutsche Behandlungsmethoden keine positiven Ergebnisse, da die deutschen Methoden nicht auf die kulturellen Unterschiede angepasst sind. Dies kann dazu führen, dass Geflüchtete keinen Sinn in einer Therapie sehen. Zusätzlich sind sie nicht an ein formales Bildungssystem gewöhnt, was eine strukturierte Therapie erschwert. Ihre permanente Unsicherheit und ein großes Maß an Fremdbestimmtheit welches sie in Kauf nehmen müssen, sind eine schwierige Grundlage für eine erfolgreiche Therapie.

Im Laufe der Recherche haben wir festgestellt, dass es viele verschieden Arten von Hilfsangeboten gibt. Jedoch können diese Angebote den Bedarf an Therapieplätzen nicht decken. Hier ist ein deutlicher Mangel an Therapeut*innen, Dolmetscher*innen und Einrichtungen zu verzeichnen. Oft springen Ehrenamtliche ein und übernehmen therapeutische Aufgaben, die ihre Kapazitäten und Grenzen überschreiten.

Es lässt sich die Schlussfolgerung ziehen, dass es einen drastischen Mangel an psychologischer Unterstützung und Versorgung von Geflüchteten in den ersten 18 Monaten gibt. Dieser ist sowohl auf staatlich/ rechtlicher Seite zu verzeichnen, als auch bei der Anzahl von therapeutischen Hilfsangeboten. Wichtig dabei ist, die Betroffenen an die Hand zu nehmen und diese zielgeleitet, nach ihren Bedürfnissen individuell zu unterstützen.

Relevanz:

Betrachtet man allein die Anzahl der Asylanträge im Jahr 2019 (146.619) und geht davon aus, dass in etwa die Hälfte aller Antragsteller*innen an psychischen Belastungen leiden, ergibt sich eine immense Zahl. Betroffen sind jedoch nicht nur die Antragsteller*innen aus 2019, sondern auch die Geflüchteten aus den vorherigen Jahren. Ebenso die Geflüchteten, die nach 2019 nach Deutschland gekommen sind. Es ist wichtig eine Behandlung in den ersten 18 Monaten zu ermöglichen, da diese sowohl als Prävention, als auch als Stabilisierung und Hilfestellung dienen kann. Gerade in Zeiten der globalen Pandemie Covid-19, ist es besonders wichtig eine psychologische Betreuung sicherzustellen. Auch ohne Traumata hadern die Menschen momentan mit den Auswirkungen der Pandemie, insbesondere wenn sie sich mit vielen Menschen auf engem Raum befinden.

Vernachlässigung:

Seit Beginn der Covid-19 Pandemie wird in unregelmäßigen Abständen über den Anstieg von psychischen Erkrankungen berichtet. Jedoch wird hierbei kaum Bezug auf vorbelastete Geflüchtete in Deutschland genommen. Eine Personengruppe, die oft außer Acht gelassen wird.

Zu Beginn unserer Recherche stellte sich uns die Herausforderung, repräsentative Daten zu psychologischen Erkrankungen von Geflüchteten in Deutschland zu finden. Es ist kaum möglich, allgemeingültige Daten zu finden, demnach haben wir uns auf die für uns aussagekräftigste Studie gestützt. Im Laufe unserer Recherche stießen wir auf den Versorgungsbericht der Bundesweiten Arbeitsgemeinschaft der Psychosozialen Zentren für Flüchtlinge und Folteropfer. Dieser lieferte uns aussagekräftige Daten und Informationen.

Das Thema taucht vereinzelt in Zeitschriftenartikeln auf, wird dort jedoch oft nur oberflächig behandelt. Anders war dies noch 2015, dort bekam das Thema deutlich mehr Medienpräsenz. Unsere Interview-Partner*innen haben sich für unser Thema auch mehr Medienpräsenz gewünscht und erhoffen sich diese in Form von Studien, Darstellungen der Situation in Massenunterkünften und anhand von Fallbeispielen. Eine Darstellung der Situation sollte im Zusammenhang mit der Situation für Deutsche stehen, damit es nicht „die Flüchtlinge“ heißt. Wichtig sei auch, nicht zu emotional zu berichten.

Kommentar:

„Beim Sozialamt musst du belegen, dass du das brauchst. Einen Termin beim Psychiater zu bekommen, um dir das belegen zu lassen ist ein langer Weg. Diesen Weg gehen viele Leute nicht. Letzten Endes müsste jetzt das ganz Thema niederschwelliger angelegt werden und es ist ja oft so, dass bei Kirchen die Caritas etc., die haben dann jemand der zur Verfügung steht, aber eigentlich ist das ja eine staatliche Aufgabe. Eigentlich sollte es ja im Gesundheitssystem auch verankert sein, dass Menschen einen leichten Zugang haben, weil wenn man denen natürlich hilft, dann geht’s denen auch besser. Im Umkehrschluss würde es, ich sag das jetzt mal ganz krass, die Wirtschaft entlasten, weil die Geflüchteten arbeiten gehen könnten, weil sie eben davor eine Therapie bekommen haben.“ (Rita Bruners)

„Unabhängig davon, was die Menschen vor oder auf ihrer Flucht erlebt haben, ist die Anfangsphase in Deutschland oft eine psychische Belastung aus mehreren Gründen. Eine psychologische Betreuung kann hierbei präventiv bewirken, dass sich keine Störungen manifestieren. Wenn eine solche schon vorliegt, ist es umso wichtiger, die Menschen zumindest zu psychologisch zu stabilisieren. So können sie die an sie gestellten Anforderungen und ihren Alltag besser bewältigen. Zudem kann durch eine möglichst frühe Intervention einer Verschlimmerung oder Chronifizierung der Symptome vorgebeugt werden.“ (Psychosoziales Zentrum)

„Es gibt definitiv keine adäquate niedrigschwellige therapeutische Versorgung, die dringend notwendig wäre.“ (Dr. Sophia Berthuet, Condrobs e.V.)