2021: Top 4

Jung, arm, abgehängt: Das übersehene Armutsrisiko ab 18

Abstract:

Ein Viertel aller Armutsgefährdeten in Deutschland sind heute zwischen 18 und 25 Jahren – in einem Alter, in dem wichtige Weichen für die Zukunft gestellt werden. Etwa 80.000 von ihnen haben den Anschluss an die Arbeitswelt und auch an das soziale Sicherungssystem bereits verloren. Denn: Gerade für diese Generation junger Erwachsener sehen Expert*innen besondere Hürden im staatlichen Hilfesystem. Medien stellen bei der Berichterstattung über Armut vor allem Alte und Kinder in den Vordergrund – obwohl auch die Corona-Pandemie durch den Wegfall kleiner legaler Jobs gerade die junge Generation noch weiter ins Risiko drängt.

Sachverhalt & Richtigkeit:

Etwa ein Viertel aller 18- bis 25-Jährigen lebten 2019 unterhalb der Armutsgrenze. Armut wird in Befragunge auch als eine der größten Ängste junger Menschen heutzutage genannt – insbesondere vor dem Hintergrund steigender Lebenshaltungskosten in Ballungsräumen und der Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse. Tatsächlich sieht der Sozialmonitor der Bundesarbeitsgemeinschaft katholischer Jugendsozialarbeit (KJS) fast 13 Millionen junge Menschen zwischen 14 und 27 von Armut bedroht, das Problem bleibt also auch für nachfolgende Generationen Thema. Für ihren Sozialmonitor hat die Arbeitsgemeinschaft das Datenmaterial des Statistischen Bundesamt und Erhebungen des Deutschen Jugendinstituts neu ausgewertet. Eine valide Wohnungslosenstatistik gibt es aber beispielsweise in Deutschland gar nicht. Die Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosenhilfe fordert diese auch vor dem Hintergrund, genauer wissen zu müssen, wer inwieweit von Armut betroffen ist. Verbände beobachten hier einen Anstieg junger volljähriger Wohnungsloser. Und: Es gibt offensichtlich Mängel im Hilfesystem. Denn: Jeder fünfte junge Mensch lebt trotz staatlichen Unterstützung unterhalb der Armutsgrenze, zeigt der Sozialmonitor.

Etwa 80.000 der hier erfassten jungen Armen sind dabei schon durchs soziale Raster gefallen: Sie haben den Anschluss ans Bildungssystem und damit auch die Arbeitswelt verloren. Für sie hat ihre Armutserfahrungen aller Voraussicht nach bleibende negative Folgen. Untersuchungen des Deutschen Jugendinstituts gehen zudem von fast 40.000 so genannten Straßenjugendlichen aus – unter ihnen auch viele Über-18-Jährige. Gerade die Generation ab 18 ist nämlich gefährdet. Denn in in diesem Alter endet für viele Teenager aus besonders belasteten Familien die Jugendhilfe. Etwa 150.000 Minderjährige wachsen derzeit in Einrichtungen der Jugendhilfe auf. Mit 18 endet diese Hilfe oft abrupt – obwohl sich die Jugendphase erwiesenermaßen verlängert hat und viele junge Menschen heutzutage bis Mitte 20 von ihren Eltern unterstützt werden und mit ihnen zusammenleben. Gerade Jugendliche mit schwieriger Biografie sind ab 18  finanziell auf Unterstützung des Jobcenters oder Bafög angewiesen und leben allein –  und haben damit in diesen Hilfesystemen auch keine oder wenig soziale Unterstützung in einer Lebensphase, in der wichtige Weichen für die Zukunft gestellt werden.

Die bürokratischen Hürden sind zudem – gerade für die besonders gefährdeten Gruppen – hoch. Die Beantragung von Bafög ist gerade für die so genannten Careleaver – junge Menschen, die in der Obhut der Jugendhilfe aufwuchsen – besonders problematisch, weil für die Anträge die Einkommensverhältnisse ihrer leiblichen Eltern dargestellt werden müssen, zu denen es oft keinen Kontakt gibt. Aber auch andere eigentlich leistungsberechtigte Studierende und Schüler*innen nehmen diese Hilfen, die sowieso zurückgezahlt werden müssen, aufgrund der bürokratischen Hürden nicht in Anspruch.

Und: Sparen für schlechte Zeit – oder für Investitionen in den Arbeitsmarkt wie einen Führerschein – sind gerade für diejenigen, die nicht aus reichen Familien stammen, ein besonderes Problem. Wer mit seinen Hartz IV-beziehenden Eltern lebt, darf nicht mehr als 100 Euro von einem Job behalten. Jugendliche, die in Heimen leben, müssen grundsätzlich 75 Prozent ihres Verdienstes abgeben. Das ist in Paragraph §94 Absatz 6 des Sozialgesetzbuches VIII verankert. Sparen ist somit kaum möglich.

Unter 25-Jährigen Hartz-IV-Empfänger*innen können zudem –  anders als bei älteren Arbeitslosen –  bei Verstößen wie einer zu geringen Anzahl von Bewerbungen die Leistungen komplett gestrichen werden. Der Leiter der KJS, Simon Rapp, nennt dies „einen der größten Skandale unser Sozialgesetzgebung“, da es völlige Mittellosigkeit bedeuten kann und für einige zum Bruch mit dem Hilfesystem führt. Auch die Forscher*innen des Deutschen Jugendinstituts sehen die scharfen Hartz IV Sanktionen in Kombination mit einem abruptem Herausfallen aus der Jugendhilfe als eine zentrale Ursache für den sozialen Absturz junger Menschen.

Die materielle Armut wird zugleich aktuell durch die Corona-Pandemie gerade für die Generation junger Erwachsener, die sich durch kleine Jobs finanziert, verschärft. Innerhalb des letzten Jahres wurden ca. 45 Prozent weniger Stellen ausgeschrieben als noch im Jahr 2019. Durch die Schließung aller nicht lebenswichtigen Geschäfte in den Lockdowns wurden viele geringfügige Stellen gestrichen und erstmal auch nicht wiederbesetzt. So auch bei Charlotte Schröder. Bis März 2020 hatte sie noch in der lokalen Buchhandlung gearbeitet. Dann kam aber unerwartet die Kündigung. „Wenn meine Eltern mir den Geldhahn abgedreht hätten, wäre ich definitiv in in einer finanziellen Notsituation gewesen.“ Doch nicht in allen Fällen können die Eltern einen bedingungslos unterstützen. Gerade in den bisherigen Lockdowns wurden sehr viele Angestellte in Kurzarbeit versetzt, was ein gekürztes Einkommen bedeutet. Und dies wiederum die Abhängigkeit von einem gerade für junge Erwachsene mit besonders vielen Hürden ausgestattetem staatlichen Hilfesystem.

Gleichzeitig wird das Thema Armut wird unter Jugendlichen bzw. jungen Erwachsenen eher selten angesprochen. Die meisten schämen sich dafür, sich nicht alles leisten zu können, zeigen Befragungen der Altersgruppe.

Relevanz:

Ein Viertel der 18- 25-Jährigen sind von dem Thema  – zumindest vorübergehend – betroffen. Ein Teil von ihnen erlebt durch die Armutserfahrungen einen sozialen Absturz. Sie koppeln sich von gesellschaftlichen Angeboten, dem Bildungssystem und auch Hilfen ab. Alle stellen in diesem Alter berufliche Weichen. Damit kommt auch den staatlichen Hilfen für Armutsgefährdeten eine wichtige gesamtgesellschaftliche Rolle zu, da sie dafür da sind, Chancengleichheit herzustellen. Im Hartz IV-Regelsystem werden junge Arbeitslose besonders hart sanktioniert und fallen schnell aus allen Hilfen. Das soll durch „Fordern“ „Fördern“. Ein Grundsatz, der angesichts der hohen Armutsgefährdung dringend kritisch diskutiert werden muss. Dass die teurere Jugendhilfe mit 18 für viele endet, hat viel mit Sparzwängen in Kommunen zu tun – mit weiteren Folgen für die Chancengleichheit einer Generation, die ihre Zukunft eigentlich gerade erst beginnt.

Vernachlässigung:

Medial steht Altersarmut oder die Armut Minderjähriger deutlich stärker im Fokus. Vereinzelt wird das Thema in überregionalen Medien aufgegriffen und Studienergebnisse, politische Forderungen von Verbänden oder Einzelschicksale dargestellt. Angesichts der hohen Relevanz, des Bevölkerungsanteils und der Rolle, die diese Generation auch für die gesellschaftlich Zukunft spielt, ist eine breitere Auseinandersetzung wichtig. Um Änderungen im Hilfesystem diskutieren und Lösungsvorschläge entwickeln zu können, braucht es eine deutlich größere Aufmerksamkeit für das gesamte komplexe und vielseitige Themenfeld.

Quellen:

Bundesarbeitgemeinschaft Katholische Jugendsozialarbeit, Monitor Jugendarmut: https://www.bagkjs.de/wp-content/uploads/2020/10/Monitor_Jugendarmut_2020_web.pdf,

Shell Jugendstudie, https://www.shell.de/ueber-uns/shell-jugendstudie/_jcr_content/par/toptasks.stream/1570708341213/4a002dff58a7a9540cb9e83ee0a37a0ed8a0fd55/shell-youth-study-summary-2019-de.pdf

Deutsches Jugendinstitut: Straßenjugendliche in Deutschland, https://www.dji.de/ueber-uns/projekte/projekte/strassenjugendliche-in-deutschland.html, Forschungsprojekt mit Erhebungen und Analysen

Bundesarbeitsgemeinschaft Wohnungslosigkeit: Statistiken zur Struktur der Wohnungslosigkeit in Deutschland, https://www.bagw.de/de/themen/zahl-der-wohnungslosen/index.html, abgerufen am 9. März 2021

Wissenschaftliche Dienste des Bundestages: Wohnungslose junge Menschen, https://www.bundestag.de/resource/blob/592586/31fc31caf97e266846dfa2d6d0dc7e91/WD-9-091-18-pdf-data.pdf