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Sexismus durch Brauchtum – das Dilemma der Kirmeskönigin

Kirmes, Karneval, Mainächte. Bräuche haben zwar ihren ursprünglichen Sinn verloren, die Rituale bleiben jedoch bestehen, was im 21. Jahrhundert frauenfeindliche Ausmaße annehmen kann. So ist der Brauch der sogenannten „Mädchenversteigerungen“ während einer Kirmes oder Mainacht in vielen deutschen Dörfern weiterhin fester Bestandteil. Männer zeigen sich gegenseitig, teils heimlich mit dem Smartphone aufgenommene, Fotos minderjähriger Mädchen und bieten Geldsummen auf sie. Das Mädchen mit dem höchsten Gebot „gehört“ dem Bieter und wird Kirmeskönigin, ob sie will oder nicht. Ein Brauch, der immer noch praktiziert wird und junge Mädchen in eine Zwangslage bringt. Unter dem Deckmantel des Brauchtums wird auch im Karneval, beim Oktoberfest und Weinfesten Sexismus gelebt und Übergriffe gerechtfertigt. Derselbe Deckmantel der Tradition verhindert offenbar die Berichterstattung darüber.

 

Sachverhalt & Richtigkeit:

Man sollte meinen, dass die Durchführung einer „Mädchenversteigerung“ im letzten Jahrhundert oder weit an weit entfernten Orten stattfindet oder in historischen Büchern zu finden ist. In manchen Dörfern ist er noch immer Realität.

Jedes Jahr vor der Kirmes werden in Dahlem die Namen aller unverheirateten Mädchen ab 16 Jahren auf eine Liste geschrieben. Die Männer bieten Geldsummen auf die Mädchen und ersteigern eine Kirmeskönigin. Mit dem eingenommenen Geld wird die Kirmes finanziert. Für die Versteigerung wird eine Präsentation erstellt, die die Fotos der Mädchen per Beamer zeigt. Die Mädchen selbst dürfen nicht vor Ort sein. Es fließt reichlich Alkohol und es werden Geldsummen auf jedes einzelne Mädchen geboten.Der Junggesellen-Verein des Dorfes führt diese Tradition jedes Jahr im September durch. Das Mädchen, auf das die höchste Summe geboten wird, erhält den Titel „Kirmeskönigin“.

Dies bringe einige Konsequenzen mit sich, so Lisa, eine Einwohnerin des Dorfes. Ihr Name wurde zum Schutz der Privatsphäre geändert. Die gebürtige Dahlemerin betont, dass der reine Prozess, also die „Mädchenversteigerung“ an sich das Schlimmste sei: Es würden Urkunden ausgestellt, die beweisen, dass das ersteigerte Mädchen dann während des Kirmes-Wochenende dem Junggesellen gehöre. Auf der Urkunde sei ebenfalls der Satz „Beischlaf nicht garantiert“ zu finden. Die Präsentation bestünde zum Großteil aus Fotos von minderjährigen Mädchen. “Viele Mädels wissen nicht, dass da tatsächlich Bilder gezeigt werden und auch persönliche Infos über sie preisgegeben werden. Es gäbe auch die Kategorie „Sexyness-Faktor“ des Mädchens und es werden je nach Attraktivität Punkte von 1-10 vergeben.

Psychologe Atzinger stuft die Mädchenversteigerung als Sexismus ein. „Bei dieser Tradition handelt es sich um Sexismus, da sie in einem frauenfeindlichen Kontext präsentiert wird. Es geht nicht darum, dass die Mädels versteigert werden. Es geht hierbei vor allem um physische Attraktivität und um nichts anderes“, so Atzinger. Rechtsanwältin Dr. Franziska Erlen-Mitsch hält die Verwendung der Fotos nach der neuen Datenschutz-Grundverordnung für hochproblematisch: „Die Bilder ohne die Einwilligung der Mädchen zu nutzen ist aus rechtlicher Sicht ein No-Go!“

Lisa erzählt aus eigener Erfahrung: „Das ganze Dorf kommt dich traditionell am ersten Kirmestag abholen und es wird dann erwartet, dass du Speis und Trank stellst, für Leute, die dir auf der Straße wahrscheinlich noch nicht mal „Hallo“ sagen. Einfach nur weil es Tradition ist. Man muss das ganze Dorf bewirten, das ist teuer.“ Laut Lisa handelt es sich um dreistellige Beträge, für die die Kirmeskönigin aufkommen muss. „Je nachdem wieviel Mühe du dir gibst – so ein paar Kästen Bier kosten bestimmt 300€.“ Laut Lisa gibt es nicht die Möglichkeit, das Amt der „Kirmeskönigin“ zurückzuweisen ohne im Dorf nicht „schief angesehen“ zu werden. „Man hat halt die Wahl, das Spiel mitzumachen oder die Mädchenversteigerung zu boykottieren um dann vom ganzen Dorf verstoßen zu werden.“

Auf psychologischer Ebene stehen alle beteiligten Mädchen des Dorfes vor einer Dilemma-Situation, so Psychologe Matthias Atzinger. Die kognitive Dissonanz sei ein wesentlicher Grund, warum sich die Mädchen des Dorfes nicht gegen diese Tradition wehren. Die Mädchen befinden sich in einem inneren Spannungszustand. Auf der einen Seite des Konflikts stehe der Glaubenssatz „Ich bin ein Teil der Dorfgemeinschaft. Ich will dazugehören.“ Auf der anderen Seite das Gefühl, „Ich werde von Männern wie Ware behandelt und objektifiziert“. Dieser innere Spannungszustand müsse gelöst werden, weil sich die Psyche der Mädchen sonst in einem unausgeglichenen Zustand befände. Gewisse Einstellungen können den Spannungszustand verringern, indem die Mädchen versuchen, die männliche Sicht anzunehmen. „Die Männer finden das cool“ oder „Das war schon immer so, die Mädchenversteigerung macht Spaß“. Die Bewohnerinnen Dahlems spüren, dass sie an dieser Stelle nicht fair behandelt werden: Lisa erzählt, dass die Traditionen oft auch ohne Frauen stattfinden. Am ersten Mai dürfen die Frauen Dahlems ebenfalls nicht mit zum jährlichen Maifeuer und werden, weil es die Tradition verlangt ausgeschlossen. Solche Übergriffe haben auch im Karneval oder dem Oktoberfest plötzlich einen Freibrief. Weil es schon immer so nehmen sich Männer das Recht heraus, auf den Po zu klatschen, in den Ausschnitt zu fotografieren oder das Mariechen mal eben auf den Schoß zu setzen. Ein „Nein“ gilt als Spaßbremse.

Die Dahlemer Tradition des Mädchenversteigerns entspringt den sogenannten „Mailehen“, erklärt Josef Mangold vom Landschaftsverband Rheinland. Ursprünglich stellte die Tradition seit dem Mittelalter einen sogenannten „Heiratsmarkt“ dar. Dieser Brauch hängt sehr eng mit der frühneuzeitlichen Praxis der Eheanbahnung vor allem auf dem Land zusammen, ist allerdings auch in Städten wie Köln nachweisbar. Heiratsfähige Jungen und Mädchen sollten zusammenkommen, um das Überleben des elterlichen Bauernhofes zu sichern, so Mangold. „Bräuche sind lebendig, passen sich aber nur langsam den aktuellen Gegebenheiten an. Ich kann mir gut vorstellen, dass Vereine, die Traditionen eng handhaben und sagen „Wir wollen uns nicht verändern“ oder „Wir wollen keine Frauen aufnehmen“, in Zukunft keine große Chance mehr haben, weil die Gesellschaft ein anderes Umgehen mit diesen Dingen fordert und damit natürlich auch dafür sorgt, dass Bräuche, die frauenfeindlich sind sich verändern müssen um weiterhin zu existieren.“  Die traditionellen Vereine des Karnevals sind nach wie vor männlich dominiert. Ein weibliches Dreigestirn scheint noch in weiter Ferne.

 

Relevanz:

In Zeiten von #metoo und Feminismus sind frauenfeindliche Traditionen nicht zeitgemäß, dennoch existieren sie unbemerkt von der Gesellschaft. In einer aufgeklärten und emanzipierten Welt dürfte es keine Traditionen mehr geben, die Sexismus normalisieren und Mädchen in das Dilemma zwingen, sich aus Brauchtumsgründen ausnutzen zu lassen oder aus Dorfgemeinschaften, Karnevalsrunden oder Volksfesten ausgeschlossen zu werden.

 

Vernachlässigung:

Das Thema wurde bisher in den Medien vernachlässigt. Es findet sich unter der Suche nach „Mädchenversteigerung“ ein Video bei YouTube, welches sehr traditionell und ohne die Nutzung von Fotos der Mädchen abläuft. Regional wird vereinzelt darüber berichtet, jedoch in positiver meist oberflächlicher Form.

 

Quellen:

Persönliches Gespräch mit Betroffener Einwohnerin Dahlems,

Persönliches Gespräch mit Matthias Atzinger (Psychologe),

E-Mail-Verkehr und Telefonate mit Josef Mangold, Landschaftsverband Rheinland,

Telefonat mit Rechtsanwältin Dr. Franziska Erlen-Mitsch
Onlinerecherchen auf:

https://www.hna.de/lokales/wolfhagen/maedchenversteigerung-in-istha-hat-es-damit-auch-sich-9732904.html

 

 

Kommentar:

„Ich kann mir gut vorstellen, dass Bräuche und Vereine, die Traditionen ganz eng handhaben und sagen „Wir wollen uns nicht verändern“ oder „Wir wollen keine Frauen aufnehmen“, in Zukunft keine große Chance mehr haben, weil die Gesellschaft ein anderes Umgehen mit diesen Dingen fordert und damit natürlich auch dafür sorgt, dass Bräuche, die in einer gewissen Form frauenfeindlich sind oder aus der heutigen Sicht so gesehen werden, sich verändern müssen, um weiterhin zu existieren.“

-Josef Mangold, Landschaftsverband Rheinland

 

 

„Es ist für die jungen Mädchen ein unangenehmes Gefühl, und um dieses zu vermeiden, wird lieber mitgemacht als „nein“ zur Tradition zu sagen, weil sie Angst haben, mit dem sozialen Ausschluss sanktioniert zu werden. Außerdem gibt es auch einige Mädchen, die die Tradition spannend finden: Status und Bestätigung von außen spielen hier eine große Rolle. Auch dafür gibt es mehrere Gründe: Es kann sein, dass diese Mädchen von sich aus einen geringeren Selbstwert haben. Bei der Mädchenversteigerung kann es dann natürlich sein, dass auf dich „am meisten geboten“ wird: Das fühlt sich in dem Moment super an, das Glückshormon Dopamin wird ausgeschüttet, weil eine positive Bewertung von außen kommt.“ –Matthias Atzinger, Psychologe

 

„Die Fotos der Mädchen ohne Einverständnis-Erklärung an die Wand zu strahlen ist nach der neuen Datenschutz-Grundverordnung hochproblematisch.“ –Dr. Franziska Erlen-Mitsch, Rechtsanwältin