2020: Top 2

Europa 2020: Keine Strategie gegen Armut

In der Europäischen Union sind mehr als 20 Prozent der Bevölkerung von Armut oder sozialer Ausgrenzung bedroht. Von der wirtschaftlichen Erholung der letzten Jahre profitierten viele EU-Bürger nicht. Um dem entgegenzuwirken, beschloss der Europäische Rat 2010 die Strategie „Europa 2020“. Das Ziel, den Anteil der Menschen unterhalb der nationalen Armutsgrenzen um 25 Prozent zu verringern und somit 20 Millionen EU-Bürger aus Armut und sozialer Ausgrenzung herauszubringen, wurde jedoch nicht erreicht. Darüber wurde in den deutschen Medien allerdings kaum berichtet.

 

Sachverhalt & Richtigkeit:

Im Jahr 2010 verabschiedete der Europäische Rat die Strategie „Europa 2020: eine neue europäische Strategie für Beschäftigung und Wachstum“. Dabei handelt es sich um ein auf zehn Jahre angelegtes Wirtschaftsprogramm der Europäischen Union. Der Schwerpunkt liegt dabei auf den Schlüsselbereichen Wissen und Innovation, stärkere Ausrichtung der Wirtschaft auf Nachhaltigkeit, hohes Beschäftigungsniveau und soziale Eingliederung. Ein „intelligentes, nachhaltiges und integratives Wachstum“ sollte die Wettbewerbsfähigkeit und soziale Marktwirtschaft Europas verbessern. Um den Erfolg dieses Vorhabens messen zu können, legte die EU fünf Bereiche fest und formulierte dazugehörende Kernziele. Dazu gehört eine Beschäftigungsquote von 75 Prozent unter den 20- bis 64-Jährigen, zweitens ein öffentliches und privates Investitionsvolumen für Forschung und Entwicklung von insgesamt 3 Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Nach dem dritten Kernziel sollen die Treibhausemissionen gegenüber 1990 um 20 Prozent verringert werden, der Anteil der erneuerbaren Energien am Gesamtenergieverbrauch soll auf 20 Prozent steigen, und eine Erhöhung der Energieeffizienz in Richtung 20 Prozent wurde angestrebt. Viertens soll die Schulabbrecherquote unter 10 Prozent fallen sowie mindestens 40 Prozent der 30- bis 34-Jährigen sollen ein abgeschlossenes Hochschulstudium oder einen gleichwertigen Abschluss vorweisen können. Als fünftes Kernziel für das Jahr 2020 sollen mindestens 20 Millionen Menschen vor dem Risiko der Armut und der Ausgrenzung bewahrt werden.

Armut und soziale Ausgrenzung sind nach der EU-Definition dann gegeben, wenn eine Person von mindestens einem der drei folgenden Kriterien betroffen ist: Armutsgefährdung, erhebliche materielle Entbehrung oder Zugehörigkeit zu einem erwerbslosen Haushalt.In der EU gelten Personen als armutsgefährdet, die mit weniger als 60 Prozent des mittleren Einkommens der Gesamtbevölkerung des Landes auskommen müssen.

Betrachtet man die veröffentlichten Daten, wird deutlich, dass das Ziel im Bereich „Armut und soziale Ausgrenzung“ nicht im Entferntesten erreicht wurde. Während im Jahr 2010 23,7 Prozent, also ungefähr 115 Millionen Menschen der europäischen Bevölkerung armutsgefährdet waren, stieg die Zahl bis 2012 sogar auf 24,8 Prozent an. Erst 2015 konnte der Ausgangswert von 2010 wieder eingeholt werden. Der aktuell letzte veröffentlichte Prozentsatz von 2017 besagt, dass 22,5 Prozent der Europäer von Armut gefährdet waren. Vergleicht man nun die Daten zu Beginn der Strategie mit den aktuellen, ist der geringe Erfolg klar zu erkennen. Somit konnte die Anzahl von Armut bedrohter Menschen lediglich von 115 auf 112,9 Millionen Menschen reduziert werden. Auch wenn die Werte der letzten zwei Jahre noch nicht vorliegen, kann das Ziel, die Zahl um 20 Millionen zu verringern, kaum noch erreicht werden.

Doch was sind die Gründe für das Scheitern der Strategie „Europa 2020“? Nach Michael Dauderstädt, Experte für internationale politische Ökonomie und europäische Integration, habe die EU kaum Kompetenzen in den wichtigsten Politikfeldern der Armutsbekämpfung (Sozialpolitik, Bildung und Gesundheit). Denn auf EU-Ebene gäbe es praktisch nur den Europäischen Sozialfonds, der stärker ausgestattet werden müsse, so der Experte. Stattdessen gäbe die EU viel für Agrarpolitik aus, die vor allem den reichen Großbauern nutzt. So zeigt zum Beispiel eine Statistik von Eurostat, dass mehr als eine Milliarde Euro 2017 in Bulgarien in die Landwirtschaft investiert wurde. Für die Regionalpolitik blieben dagegen nur ungefähr 620 Millionen Euro.

Doch auch wenn die EU den Mitgliedstaaten mit Subventionen unter die Arme greift, kommen diese nicht zwangsläufig dort an, wo sie gebraucht werden. Sinn von Subventionen sei die Bekämpfung von Armut durch die Förderung mittelständischer und Kleinunternehmer und nicht die Reichen noch reicher zu machen, betont der Entwicklungs- und Armutsexperte Kurt Bangert. Das aktuellste Beispiel sind die Vorwürfe gegen den tschechischen Ministerpräsidenten Andrej Babis, dem Subventionsbetrug vorgeworfen wird. Nach Bangert mahne die EU die südosteuropäischen Länder immer wieder an, Korruption zu bekämpfen, da sie die Reichen begünstige und die Armen benachteilige. Doch er fügt außerdem hinzu: „Die EU kann Empfehlungen aussprechen, sie kann Richtlinien setzen, zuweilen auch Strafen verordnen, aber sie kann nicht in die Souveränität von Mitgliedstaaten eingreifen“. Die Hauptverantwortung der Armutsbekämpfung liegt also nicht nur bei der EU, sondern auch bei den Mitgliedstaaten selbst.

Doch was hätten die EU und die einzelnen Mitgliedsstaaten besser machen können? Nach Dauderstädt gibt es zwei Ansätze, die dabei helfen können, Armut abzubauen. Auf innerstaatlicher Seite spiele vor allem der Mindestlohn und eine strikte Entsenderichtlinie, um die Lohnkonkurrenz einzuschränken, eine wichtige Rolle. Auf zwischenstaatlicher Eben müsse die EU bei ihrer Finanzplanung ab 2021 ihre Priorität auf die Förderung von Wachstum und Beschäftigung setzten. Außerdem könne durch Maßnahmen wie einen Eurozonenhaushalt- und minister die Investitionstätigkeit unterstützt werden, Banken europaweit durch einen Einlagenschutz zu stabilisieren, so der Experte.

Die Mission, Armut und soziale Ausgrenzung in Europa deutlich zu verringern, ist also vorerst gescheitert. Die Zahl der Betroffenen ist zwar leicht rückläufig, aber immer noch hoch. Folgen von Armut und sozialer Ausgrenzung können vor allem Bildungsbenachteiligung in der Kindheit sein, was die Wahrscheinlichkeit für spätere Erwerbslosigkeit immens erhöht und der Ausschluss aus der sozial-kulturellen Gesellschaft durch fehlende Geldmittel, so Bangert. Aber nicht nur das, Armut kann ebenso Einfluss auf die Lebenserwartung eines Menschen haben.

Die Aussage, dass die Armut auf dem Rückzug sei, ist zwar nicht falsch, aber sie verharmlost ein großes aktuelles Problem in Europa. Der Ansatz, dieses Problem mit der Strategie „Europa 2020“ anzugehen, ist durch Gründe wie zu geringe Investitionen und falsche Prioritätensetzung gescheitert.

Angesichts der Relevanz der Dimension von Armut und sozialer Ausgrenzung in der EU, ist es umso wichtiger, dass das Nichterreichen der gesteckten Ziele mediale Aufmerksamkeit erhält.

 

Relevanz:

Europa steht für viele Menschen als Synonym für eine Wohlstandsgemeinschaft und so kann es zu Fehlannahmen kommen, dass es in den reichen mitteleuropäischen Staaten kaum Armut gäbe. In Europa sind jedoch 140 Millionen Menschen von Armut bedroht und die Zahl verringert sich jährlich nur minimal. Es handelt sich also nicht um ein Randphänomen, sondern um eine erschreckend hohe Zahl, der nicht genügend Beachtung geschenkt wird. Ein verfälschtes Bild von Europa verherrlicht die Situation, in der sich mehr als ein Drittel der Europäer befindet und nimmt der Politik den Druck, endlich einen Schwerpunkt auf die Armutsbekämpfung zu setzen.

 

 

Vernachlässigung:

Bei dem Thema „Armut in Europa“ erhalten vor allem Statistiken zur Armutsquote von Eurostat Einzug in Presseartikel, die zusammengefasst wiedergegeben werden (Tagesschau am 16.10.2018).

Außerdem wird das Thema in Bezug auf Deprivation und dem Wiederaufschwung der Wirtschaft und den dadurch bedingten Rückgang von Armut aufgegriffen (Welt.de am 02.05.2019 und am 13.05.2019).

Ein weiterer Aspekt ist der Vergleich der verschiedenen Einkommen in den Mitgliedstaaten, veranschaulicht durch Grafiken (Spiegel Online am 08.11.2017).

Das spezielle Thema der Strategie „Europa 2020“ wurde dagegen nicht aufgegriffen und erläutert. Informationen dazu und aktuelle Ergebnisse finden sich lediglich auf Webseiten von Ministerien und der der Europäischen Kommission.

 

 

Quellen:

E-Mail-Verkehr mit Michael Dauderstädt, Experte für internationale und politische Ökonomie und europäische Integration, 22.06.2019

E-Mail-Verkehr mit Kurt Bangert, Entwicklungs- und Armutsexperte, 25.06.2019

Studie von Michael Dauderstädt und Cem Keltek, Europas Armut und Ungleichheit, 2018, https://library.fes.de/pdf-files/wiso/14553.pdf über die unterschätzte Zahl der armutsgefährdeten Menschen in Europa

Bericht von Florian Diekmann, So hoch ist ihr Einkommen im Europa-Vergleich, 24.01.2018, Spiegel Online, https://www.spiegel.de/wirtschaft/einkommen-so-stehen-sie-im-europaeischen-vergleich-a-1188143.html über das Medianeinkommen aller Länder in Europa

Onlinerecherche auf Armut.de, Entwicklungspolitisches Bildungsangebot des World Vision Instituts, http://www.armut.de/impressum.php

Bericht von Johanna Mischke, Europa 2020 Die Zukunftsstrategie der EU, 05.2013, Eurostat, https://www.destatis.de/DE/Themen/Laender-Regionen/Internationales/Publikationen/broschuere-europa-2020-0000149139004.pdf?__blob=publicationFile&v=3 über die gesamte Strategie „Europa 2020“

Onlinerecherche auf Europa.eu/Eurostat, Statistische Amt der EU, https://ec.europa.eu/eurostat/web/europe-2020-indicators/europe-2020-strategy/overview

Onlinerecherche auf Europa.eu, EU-Haushalt Überblick, http://www.europarl.europa.eu/external/html/budgetataglance/default_de.html#bulgaria

 

 

Kommentar:

„Die EU hat Länder immer vor allem zur Sparsamkeit (im Staat) und Lohnzurückhaltung gedrängt.“

(Michael Dauderstädt, Experte für internationale und politische Ökonomie, Friedrich-Ebert-Stiftung)

 

„Ich bin skeptisch bzgl. künftiger Verbesserungen, aber vielleicht hilft der politische Druck, der durch das Protestwahlverhalten entstanden ist – leider zugunsten nationalpopulistischer Kräfte.“

(Michael Dauderstädt, Experte für internationale und politische Ökonomie, Friedrich-Ebert-Stiftung)

 

„Es muss auch weiter über einen Turbokapitalismus nachgedacht werden, bei dem diejenigen, die Geld haben, dieses überproportional vermehren möchten auf Kosten derer, die ihr Geld mit eigener Hände Arbeit verdienen müssen.“

(Kurt Bangert, Entwicklungs- und Armutsexperte)

 

„Weil von einem wirtschaftlichen Aufschwung meist die Reichen überproportional profitieren, wird allein schon durch das Einkommen der Reichen das Medianeinkommen erhöht, sodass die auch die Armutsgefährdungsgrenze in absoluten Euro-Zahlen erhöht wird.“

(Kurt Bangert, Entwicklungs- und Armutsexperte)