2019: Top 9

Polizeiliche Hürden bei der Ermittlung von Cyber-Kriminalität

Laut polizeilicher Kriminalstatistik hat die Zahl der Computerdelikte seit 2003 enorm zugenommen. Bankkonten werden ausspioniert, E-Mail-Konten gehackt, private Daten ausgelesen. Während die Täter sich weiter spezialisieren und immer raffinierter arbeiten, verbringt die Polizei zu viel Zeit mit der Sichtung und Auswertung der Beweismaterialien. Nur knapp die Hälfte der Straftaten kann aufgeklärt werden. Im Extremfall liegt die Quote sogar nur bei 25 Prozent. Wenn die Ermittlungen nicht mangels Beweislage eingestellt werden, verjähren die Delikte und die Täter kommen ohne Strafe davon. Während polizeiliche Lobbyverbände für verfassungsrechtlich umstrittene Befugniserweiterungen und Zugriffsmöglichkeiten auf Rechner von Verdächtigen plädieren, deuten parlamentarische Anfragen auf personelle Engpässe und Mängel in der Alltagsaustattung der Ermittlungsbehörden hin. Hierüber wird die Öffentlichkeit aber nicht informiert.

 

Sachverhalt & Richtigkeit:

Das Verbrechen lauert immer und überall, heutzutage aber vor allem auch im Internet. Der Schutz der Internetnutzer durch die Polizei sieht aber eher mangelhaft aus. Das zentrale Problem läge schlichtweg an der Masse der Delikte im Allgemeinen, so Sebastian Fiedler, Vorsitzender des Bundes Deutscher Kriminalbeamter. Während schwereren Fällen, durch Bearbeitung von spezialisierten Ämtern des LKA, ein angemessenes Maß an Beachtung und Ermittlungsaufwand zukäme, seien es die kleineren Straftaten, die einfach untergingen, bei denen Ermittlungen häufig gar nicht erst stattfänden. Hinzu käme eine hohe Anzahl eingestellter Verfahren. Neben einem Personalmangel sieht Fiedler die Gründe hier auch bei schlecht ausgestatteten Polizeistationen. Insbesondere auf lokaler Ebene seien Cyber-Ermittlungen schwierig.

Auch der auf Internet- und IT-Sicherheits-Fragen spezialisierte Rechtsanwalt Christian Solmecke erkennt die Problematik. Insbesondere bei Cyber-Straftaten wäre demnach dringend besonders gut geschultes Personal nötig, um angemessen zu ermitteln. Dabei stelle die größte Herausforderung für die Polizei die Anonymität der Täter dar. Neben besser ausgebildeten Beamten sei deswegen auch eine verbesserte technische Ausstattung der Dienststellen unumgänglich.

Die Polizei Baden-Württemberg begründet den auch bei ihnen spürbaren Anstieg der Arbeitsbelastung mit der „zunehmenden Digitalisierung aller Lebensbereiche“. Die Mengen an Daten, die ausgewertet werden müssen, stellt die Dienststellen vor eine personelle und technische Herausforderung. Eine Priorisierung schwererer Delikte führe zwangsläufig zu längeren Wartezeiten bei Standarduntersuchungen.

Dies bestätigen auch Informationen des Innenministeriums Schleswig-Holsteins, die diese auf Anfrage der Piratenpartei veröffentlichten. Der Datensatz, der sich der Dauer polizeilicher Auswertung von Datenträgern widmet, bescheinigt Bearbeitungsspannen von bis zu 3 Jahren beim LKA und der zentralen IT-Beweissicherungsgruppe. Bei den regionalen IT-Beweissicherungsgruppen kam es in Einzelfällen sogar zu einer Bearbeitungsdauer von 5 Jahren (ITB Lübeck). Dr. Patrick Breyer, ehemaliger Fraktionsvorsitzender der Piratenpartei Schleswig-Holstein, kommentiert die Ergebnisse folgendermaßen: „Eine Auswertungszeit der Speichermedien von bis zu fünf Jahren heißt im schlimmsten Fall, dass Straftaten wegen Verjährung gar nicht mehr verfolgt oder nur noch geringe Strafen verhängt werden können“. Auch Rechtsanwalt Solmecke sieht dies, trotz Verweis auf Einzelfälle, als eine reale Gefahr an. Neben einer möglichen Verjährung sorgt auch eine dünne Beweislage dafür, dass die Täter nur schwer verfolgt werden können. Fremdnamen, Verschlüsselungen und ausländische Serververbindungen erschweren die Aufspürung der Täter zusätzlich.

Bei der Staatsanwaltschaft Bremen wurden so 67 von 94 Ermittlungsverfahren im Bereich Cyberkriminalität gegen unbekannte Täter eingestellt. Die rechtliche Grundlage bildete dabei § 170 Abs. 2 StPO, nach welchem die Staatsanwaltschaft das Verfahren einstellt, sollten die Ermittlungen nicht genügenden Anlass zur Erhebung der öffentlichen Klage geben.

Zwar hat die Politik zwischenzeitlich reagiert und in den meisten Landespolizeigesetzen den Einsatz von Spähsoftware auf den Rechnern Verdächtigter geregelt, doch statt dieser verfassungsrechtlich umstrittenen Maßnahmen wäre vielen Polizeibehörden schon mit aktueller Computerausstattung, ausreichend Personal und Fortbildungen in ihrer täglichen Ermittlungsarbeit geholfen.

 

 

Relevanz:

Die Thematik betrifft in Deutschland jeden der 63,3 Millionen Menschen, die das Internet nutzen. Denn sie alle wünschen sich schnelle polizeiliche Hilfe, egal ob der Social-Media-Account gehackt ist oder ob die eigenen pikanten, private Daten online veröffentlicht werden. Damit der Weg zur Polizei, auch bei kleineren Delikten, nicht von den Opfern gescheut wird, dürfen die Ermittlungsverfahren nicht in dieser Häufigkeit ins Leere verlaufen. Nur durch maßgebliche, betriebliche Veränderungen können die Vorgehensweisen der Täter auch frühzeitig erkannt und die Abläufe auf Seiten der Polizei routinierter werden, um der Cyberkriminalität so langfristig den Kampf anzusagen.

 

Vernachlässigung:

Die norddeutsche shz.de berichtete im Jahre 2014 über rückständige Verfahren zum Aufdecken von Cyberkriminalität in Hamburg und Schleswig-Holstein. Während dies der einzige auffindbare Beitrag auf Seiten der Medien war, haben mehrere Parteien sich mit diesbezüglichen Bedenken an die Landesregierungen gewandt. So fanden sich neben der erwähnten Anfrage der Piratenpartei an den Landtag Schleswig-Holsteins (2017) auch Anfragen Abgeordneter des Bündnis 90/Die Grünen an den bayerischen Landtag (2017) sowie der FDP-Fraktion an den Bremer Landtag (2019).

 

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Quellen:

  • Telefonat mit Sebastian Fiedler, Vorsitzender des Bund Deutscher Kriminalbeamter, 22.01.2019
  • E-Mail-Verkehr mit Christian Solmecke, Rechtsanwalt der Kölner Medienrechtskanzlei WILDE BEUGER SOLMECKE auf die Beratung der Internet- und IT-Branche spezialisiert, 22.01.2019
  • E-Mail-Verkehr mit Renato Gigliotti, Ministerium für Inneres, Digitalisierung und Migration

Baden-Württemberg, 23.01.2019

  • Onlinerecherche: Artikel auf shz.de: „Cyber-Kriminalität: Hamburger Polizei im Netz zu langsam?“, 05.05.2014 https://www.shz.de/regionales/schleswig-holstein/panorama/hamburger-polizei-im-netz-zu-langsam-id6453671.html
  • Pressemitteilung der Piratenfraktion im Schleswig-Holsteinischen Landtag mit Anfrage an das Landesinnenministerium: „Cybercrime: Durch lange Bearbeitungsdauer droht Verjährung“, 01.06.2017 https://www.piratenfraktion-sh.de/2017/06/01/cybercrime-durch-lange-bearbeitungsdauer-droht-verjaehrung/
  • Antwortschreiben der Landesregierung Schleswig-Holstein mit Daten zur Dauer der polizeilichen Auswertung von Datenträgern, 26.05.2017
  • Mitteilung des Senats an die Bremische Bürgerschaft (Landtag) vom 15. Januar 2019 zur „Cybersicherheit in Bremen“ der FDP-Fraktion https://www.bremische-buergerschaft.de/drs_abo/2019-01-16_Drs-19-1993_7e712.pdf
  • Antwortschreiben der bayerischen Landesregierung auf die schriftliche Anfrage der Abgeordneten Katharina Schulze (Bündnis 90/Die Grünen) vom 31.01.2017 zu „Cybercops bei der Bayerischen Polizei II“
  • Daten der Polizeilichen Kriminalstatistik, Jahrbuch 2017, Band 1, Fälle, Aufklärung, Schaden
  • de „Cybercrime: Jeder zweite Internetnutzer wurde Opfer.“ 10.10.2017 https://www.bitkom.org/Presse/Presseinformation/Cybercrime-Jeder-zweite-Internetnutzer-wurde-Opfer.html
  • de „Anzahl der Internetnutzer in Deutschland in den Jahren 1997 bis 2018“ Oktober.2018
  • PKS 2017 – Jahr­buch Band 4 – Ein­zel­ne Straf­ta­ten https://www.bka.de/SharedDocs/Downloads/DE/Publikationen/PolizeilicheKriminalstatistik/2017/pks2017Jahrbuch4Einzelne.pdf

 

Kommentar:

 

„Im Dark-/Deepweb ist der Ermittlungsaufwand einfach zu hoch, dort bleiben 99% aller Straftaten unentdeckt.“

(Sebastian Fiedler, Bund Deutscher Kriminalbeamter)

 

„Die Dimension des Cybercrime ist gewaltig. Allein im Jahr 2017 gab es 85.960 bekanntgewordene Cybercrime-Delikte. 2014 waren es nur knapp 50.000 – und schon damals wurde die langsame Bearbeitungsdauer durch die Ermittlungsbehörden im Hinblick auf die drohende Verjährung kritisiert.“

(Christian Solmecke, Rechtsanwalt)