2019: Top 8

Gefährliche Cocktails – Falsche Medikation bei Senioren

Viele Senioren bekommen falsche Medikamente oder Medikamentendosen, die schädlich für sie sein können. Mögliche Folgen sind etwa Symptome wie Schwindel oder Verwirrung, die auch zu Stürzen führen können. Andere Medikamente können die Organe schädigen. Vielen Patienten ist nicht bekannt, dass zahlreiche Arzneimittel für Menschen ab 65 Jahren möglichst vermieden werden sollten. Auch über Lösungsansätze für dieses Problem berichten die Medien kaum.

 

Sachverhalt & Richtigkeit:

Laut Barmer Arzneimittelreport 2018 nimmt jeder fünfte Senior ungeeignete Medikamente. Es handelt sich um sogenannte PIM, das bedeutet: als potenziell inadäquat eingestufte Arzneimittel, die Senioren nicht einnehmen sollten – oder nur nach einer strengen Nutzen-Risiko-Abwägung durch den Arzt. Für ein erhöhtes Auftreten von Nebenwirkungen gibt es verschiedene Gründe. Ältere Menschen reagieren grundsätzlich empfindlicher auf Medikamente als jüngere. Die Niere, die für die Entgiftung und Filterung im Körper zuständig ist, schafft etwa bei einer 70-Jjährigen nur noch die Hälfte ihrer ursprünglichen Leistung. Ein anderer Grund ist, dass im höheren Alter oftmals mehrere Erkrankungen vorliegen, sodass verschiedene Medikamente gleichzeitig eingenommen werden. Dies kann zu unerwünschten Nebenwirkungen führen oder diese verstärken, besonders wenn die Medikation nicht aufeinander abgestimmt ist.

Für die Ärzte und Apotheker ist es schwierig, dies im Einzelfall zu überblicken, besonders wenn Informationen nicht vorliegen oder nicht weitergegeben werden. Insgesamt gibt es laut Barmer Arzneimittelreport 29.705 Wirkstoffkombinationen mit möglichen Wechselwirkungen, darunter erwünschte und unerwünschte. Wenn Probleme auftreten, ist dies in den meisten Fällen nicht auf Fehler eines einzelnen zurückzuführen, sondern auf die fehlende Koordination und Abstimmung untereinander. Ärzte können oft nicht komplett einsehen, welche Medikamente, in welchen Dosen bereits eingenommen werden und welche Vorerkrankungen der Patient hat. So bekommen etwa 65% der Barmer-Versicherten Medikamente von drei oder mehr Ärzten, und 82% lösen ihre Rezepte bei verschiedenen Apotheken ein. Fragt man die Patienten, so gaben bei einer Studie 27% der Befragten an, in den letzten zwei Jahren einen Fehler bei der Behandlungskoordination und 20% einen Medikationsfehler erlebt zu haben. Und auch der Präsident des Bundesinstituts für Arzneimittel und Medizinprodukte, Karl Broich, erklärt: „Medikationsfehler führen in der Praxis immer wieder zu erheblichen Gesundheitsschäden, obwohl sie häufig vermeidbar wären.“

Studien zeigen für einzelne Medikamente, in welchem Ausmaß Nebenwirkungen durch fehlerhafte Verordnungen entstehen können. Ein Beispiel ist Methotrexat, ein Wirkstoff der unter anderem bei Rheuma- und bei Krebs-Patienten eingesetzt wird. Zu den Nebenwirkungen dieses Stoffes gehört eine Hemmung der Nierenfunktion. Patienten mit bereits eingeschränkter Nierenfunktion dürfen diesen Wirkstoff deshalb nicht einnehmen. Eine Untersuchung der Barmer ergab, dass von etwa 50.000 Versicherten, die mit diesem Wirkstoff behandelt wurden, rund 1.400 unter Niereninsuffizienz litten. Sie hätten mit dem Mittel nicht behandelt werden dürfen.

Arzneimittelexperten der Universität Witten-Herdecke haben die sogenannte Priscus-Liste aufgestellt. Sie enthält 83 Arzneimittelwirkstoffen, die als potenziell inadäquat eingestuft wurden und bei Patienten ab 65 Jahren möglichst vermieden oder nur nach strenger Nutzen-Risiko-Abwägung eingesetzt werden sollten. Die Wirkstoffe dieser Liste führten etwa doppelt so häufig zu unerwünschten Wirkungen. Dennoch wurde einer Studie zufolge bereits jeder fünfte ältere Patient schon mindestens einmal mit einem dieser Medikamente behandelt.

Eine andere Maßnahme gegen falsche Medikation ist der Mai-Fragenkatalog (Medication Appropriateness Index). Er enthält 10 Fragen, die beispielweise ein Apotheker einem Patienten stellen kann, um herauszufinden wie effektiv bzw. sinnvoll die Behandlung ist. Wird eine Frage mit „Ja“ beantwortet, so gibt dies einen Punkt, „Teilweise“ zwei Punkte und bei „Nein“ drei Punkte. Je niedriger die Punktzahl, desto besser ist die Therapie am Optimum.

Die sogenannte „Ampel-Studie“ zur Arzneimittelsicherheit ergab im Jahr 2013, dass bei je 100 Heimbewohnern pro Monat etwa 8 unerwünschte Arzneimittelwirkungen auftraten. Etwa 60% davon wären vermeidbar gewesen, schreiben die Autoren. In der Folge entwickelte ein Zusammenschluss von Universitäten und Instituten die AMTS-Merkkarte für Ärzte und Apotheker. Auch sie soll dabei helfen, zu überprüfen, welche Wirkstoffe für ältere Menschen schädlich sind und zu welchen Symptomen sie führen können.

Natürlich sind auch die Krankenkassen daran interessiert, eine falsche Medikation zu vermeiden. Hier setzt das Projekt „Adam“ (Anwendung für digital unterstütztes Arzneimitteltherapie-Management) der Barmer an. Das digitale Versorgungskonzept arbeitet mit einer Software, die für eine größere Sicherheit der Patienten sorgen soll, indem Informationen von Patienten, die mehr als fünf Medikamente benötigen, bundesweit verfügbar sind. In einem Testlauf sind zunächst 30.000 Patienten und 1.000 Hausarzt- Praxen beteiligt.

 

Relevanz:

Falsche Medikation oder nicht zulässige „Cocktails“ aus verschiedenen Arzneimitteln, die viele Patienten zu sich nehmen, führen zu nachweislichen, vermeidbaren Gesundheitsschäden. Neben dem verursachten Leid entstehen auch hohe Kosten für das Gesundheitssystem und damit letztlich für alle Versicherten. Es handelt sich offenbar um eine Lücke im Gesundheitssystem, die nach vielen Studien, Berichten und Versuchen immer noch nicht geschlossen ist. Die Zahl der potentiell Betroffenen ist – auch angesichts der demografischen Entwicklung – enorm. Bereits jetzt nehmen den  Angaben zufolge etwa 45 Prozent der Barmer-Versicherten drei Medikamente oder mehr ein.

 

Vernachlässigung:

Die Berichterstattung geht selten über Einzelfälle hinaus. Das Ausmaß der Problematik dürfte der breiten Bevölkerung nicht bekannt sein. Insbesondere fehlt eine Berichterstattung über mögliche Lösungsansätze. Diese Ansätze sind durchaus vorhanden, etwa durch die oben zitierte Priscus-Liste, das Barmer-Projekt Adam oder bundeseinheitliche Medikationspläne. Diese Möglichkeiten werden in der Berichterstattung kaum aufgegriffen. So wird der Öffentlichkeit nicht deutlich, dass es hier um vermeidbare Fehler geht, die großen Schaden verursachen.

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Quellen:

 

Barmer Arzneimittelreport 2018, https://www.barmer.de/blob/159166/b9999fb6ca0a7b98f523c70dbc29c251/data/dl-report-komplett.pdf

 

Kesler-Haeusler-Forschungsinstitut, http://www.seniorenwissenschaften.de