2019: Top 6

Kinderarbeit für das Brautgeld – Das Sumangali-System in Südindien

Das Wort „Sumangali“ bedeutet übersetzt „glückliche Braut“. Im südlich gelegenen Tirupur in Indien bedeutet es jedoch für viele junge Frauen Sklaverei in Spinnereien, da sie zum Arbeiten in ein Camp geschickt werden, um mit dem Lohn den Brautpreis an den Ehemann bezahlen zu können. Die betriebene Form der Ausbeutung betrifft schätzungsweise 300.000 Mädchen. Während die Medien häufig über die Zustände in Textilfabriken berichten, werden die Produktionsbedingungen des „Sumangali“- Prinzips in der Berichterstattung stark vernachlässigt.

 

Sachverhalt & Richtigkeit:

Indien ist nach China die zweitgrößte Textilindustrie der Welt und somit ein wichtiger Textilexporteur für 126 Länder. Die Branche bietet der indischen Bevölkerung 45 Millionen Arbeitsplätze. Über die Hälfte aller Spinnereien in Indien befinden sich im südlichen Bundesstaat Tamil Nadu, wo schätzungsweise 300.000 meist junge Mädchen in Spinnereien unter dem sogenannten Sumangali-System, beziehungsweise der „Camp-Arbeit“ leben und arbeiten, was laut Femnet eine Form der Ausbeutung, Zwangsarbeit und Sklaverei darstellt.

Das Prinzip von Sumangali ist einfach. Mädchen und junge Frauen werden drei bis fünf Jahre in solchen Spinnereien geschickt mit dem Versprechen, am Ende einen Geldbonus erhalten. Dort wohnen sie in überfüllten Schlafräumen ohne Kontakt zu Familie und Außenwelt, da das Camp nicht verlassen dürfen. Studien indischer NGOs berichten über sexuelle Belästigung und Misshandlung seitens der Aufseher.

Obwohl der Brautpreis in Indien seit langer Zeit verboten ist, ist laut Femnet die Bezahlung der Familie des Ehemanns immer noch üblich. Je mehr Geld man zahlen kann, desto größer die Chance auf einen „guten“ Ehemann. Aus diesem Grund sehen viele Familien den versprochenen Bonus durch Sumangali als Gelegenheit, ihre Töchter gut zu verheiraten und ihnen ein gutes Leben zu bieten.

Laut „terre des hommes“ stecken hinter den Fabriken kleine bis mittelgroße Spinnereibesitzer, die in Zusammenarbeit mit Menschenhändlern, Familien aus ärmlichen Verhältnissen im Visier haben. Ein angeblich attraktiver Beruf scheint das Richtige für die Töchter zu sein. Das verlockende Angebot: „[…] three meals a day, air-conditioning, swimming pool, and free movies […]“ (SAVE: 2014).

In der indischen Gesellschaft ist das traditionelle Kastensystem weit verbreitet. Das Leben ist stark von dem System geprägt, denn von Geburt an ist man an die jeweilige Kaste gebunden. Menschenhändler wenden sich bei der Vermittlung an Fabriken besonders an Familienaus der untersten Kaste.

Das Ergebnis einer Studie der NGO „SAVE“, aus dem Jahr 2014 hat ergeben, dass 88% der Befragten Migrantinnen aus Dörfern, die stark unter der Dürre leiden oder durch Bergbau zerstört wurden seien. Bei der Studie wurden 1.990 Beschäftigte aus 373 Spinnereien in Form von Einzel- und Gruppeninterviews befragt. Zum Zeitpunkt der Befragung waren über 85% der Arbeiterinnen noch nicht volljährig, 23% zu Beginn der Arbeit sogar nur zwischen 12-14 Jahren, was selbst nach indischem Gesetz verboten ist.

Die Arbeits- und Lebensbedingungen variieren, doch in vielen Fällen haben die Mädchen eine sieben Tage Woche à 12 Stunden Arbeit inklusive Nachtschichten. Die von SAVE durchgeführten Interviews mit den Betroffenen ergaben, dass 80% der Arbeiterinnen bei einer acht Stunden-Schicht keine Pause machen durften. Im Interview mit „terre des hommes“ erzählt die ehemalige Sumangali-Arbeiterin Anjali Deli: „Die Mädchen waren dieser ständigen Schichtarbeit und den langen Arbeitszeiten einfach nicht gewachsen, was bei vielen Mädchen zu gesundheitlichen Folgen wie Atem- und Hautproblemen führte“.

Barbara Küppers von „terre des hommes“ war bereits mehrere Male vor Ort und beschreibt die Hostels als „größere Hühnerställe“, in denen ungefähr sechs Mädchen in einem Raum untergebracht werden.

Für die harte Arbeit bekommen die Arbeiterinnen einen Verdienst, der weit unter dem gesetzlichen Mindestlohn von umgerechnet 113 € im Monat liegt. Laut Femnet beträgt der monatliche Lohn in den Spinnereien etwa 19 €. Dies entspricht nur 16% des vorgegebenen Mindestlohnes. Die Mädchen arbeiten auf den versprochenen Bonus am Ende der Zeit von etwa 500€ hin, was dem durchschnittlichen Lohn von 0,43 € bis 0,72 € pro Tag entspricht. Bei vorzeitiger Beendigung der Arbeitszeit wird der Bonus nicht ausgezahlt. Die Mädchen werden oft als Auszubildende verbucht, um eine geringe Bezahlung zu rechtfertigen. Einen Arbeitsvertrag hatte keine der 1.990 Befragten, sodass kein belastbarer Nachweis für die Anstellung und somit den Lohn vorhanden war.

Sumangali ist eine Form der Sklaverei, die gezielt arme, wehrlose Mädchen ausbeutet und physische und psychische Folgen hinterlässt. Neben Krankheiten sind auch Arbeitsunfälle an der Tagesordnung. Besonders die Erschöpfung der Frauen führt zu Unfällen mit den Maschinen. Viele Arbeiterinnen verlieren einige Finger oder sogar die ganze Hand. Barbara Küppers erzählt von dem Schicksal einer ehemaligen Arbeiterin, die drei Finger verlor und daher entlassen wurde, ohne ihren Bonus zu bekommen. Die Frau klagte gegen die Spinnerei und bekam eine Entschädigung. Im Interview mit „terre des hommes“ im Jahr 2014 erzählt die Direktorin der Klinik in Tirupur, dass Mädchen sich mit leicht zugänglichen Pestiziden vergiften, um nicht mehr arbeiten zu müssen. Der ständige Druck und die Abkapselung von Familie und Außenwelt hinterlässt vor allem psychische Spuren.

Die Garne der Sumangali-Fabriken werden in alle Welt exportiert und oft bereits vor Ort zu Stoffen verarbeitet. Aufgrund folgender Produktionsschritte ist es schwierig nachzuvollziehen, für welche Firmen produziert wurde. Die Recherche ergab, dass sich bereits zwei Modeketten, C&A und H&M, gegen die moderne Form der Sklaverei engagieren und als Mitglieder in der Ethical Trading Initiative ethischen Handel unterstützen.

Die Unternehmen haben jedoch keinen ausreichenden Einfluss, erklärt Barbara Küppers, die das Problem in der Politik des Bundesstaats Tamil Nadu sieht.  Die Textilindustrie habe als Arbeitgeber einen zu großen Einfluss auf das Land, und der Sektor sei nicht hinreichend reguliert. Die Regierung weist die Vorwürfe der Sklaverei zurück und verbietet gleichzeitig den Hilfsorganisationen vor Ort, darüber zu berichten.

Ehemalige Camp-Arbeiterinnen machen es sich zur Aufgabe, andere Familien aufzuklären und vor Menschenhändlern zu warnen. Sie wehren sich gegen das System und schaffen es immer wieder, die Vermittler aus den Dörfern zu vertreiben. Doch solange die Politik nicht eingreift, so Einschätzung der NGOs, wird das System weiter bestehen.

 

Relevanz:

„terre des hommes“ geht aktuell von 300.000 Mädchen aus, die unter dem Sumangali-System arbeiten und Stoffe auch für die westliche Welt spinnen. Vor allem die Suizide in den Camps zeigen, wie prekär und ernst das Thema ist. Wenngleich sich Modeunternehmen gegen das System engagieren und für bessere Arbeitsbedingungen eintreten existiert es nach wie vor.

 

 

Vernachlässigung:

Über das Sumangali-System wurde in der Vergangenheit nur vereinzelt in Medien berichtet. Die Süddeutsche Zeitung veröffentlichte in den Jahren 2012 und 2013 Beiträge hierzu. Der Tagesspiegel machte in dem Artikel „Knechtschaft statt Reichtum“ (06.01.2014) auf das Sumangali-System aufmerksam. Vor allem die NGOs „Femnet“ und „terre des hommes“ setzen sich für bessere Bedingungen ein und stellen in Zusammenarbeit mit ausländischen NGOs den Betroffenen Informationen zur Verfügung, so dass hauptsächlich in Pressemitteilungen und Berichten Informationen darüber zu finden sind.

Die aktuellste Veröffentlichung ist derzeit der Artikel „Runder Tisch für Kinderrechte“ (12.05.2016) von der Tageszeitung „Neues Deutschland“. In der Mehrheit der Bevölkerung dürfte das Sumangali-System völlig unbekannt sein.

 

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Quellen:

  • Telefonisches Gespräch und E-Mail-Verkehr mit Barbara Küppers, Politik und Kommunikation, 21.01.2019;
  • Telefonisches Gespräch und E-Mail-Verkehr mit Kerstin Dahmen, Projektreferentin im Projekt „Bildungsarbeit an Hochschulen“, 07.01.2019;
  • Studie von Anibel Ferus-Comelo, im Rahmen von Femnet e.V. (Femnet) 2016
  • Studie von SAVE NGO 2014, im Rahmen der Femnet Studie
  • Email-Verkehr mit H&M;
  • E-Mail-Verkehr mit den Organisationen SOMO und SAVE;
  • Youtube-Videos des Kanals terre des hommes https://www.youtube.com/user/tdhdeutschland/videos
  • Onlinerecherchen auf:

Terre des Hommes: https://www.tdh.de/was-wir-tun/themen-a-z/sumangali-sklavinnen-fuer-die-textilindustrie/daten-und-fakten/

Bündnis für nachhaltige Textilien: https://www.textilbuendnis.com/moderne-sklaverei-und-kinderarbeit-in-der-textilindustrie-beenden/http://www.sklaverei-in-mode.de

SAVE NGO: https://www.savengo.org/research.html

SOMO: https://www.somo.nl/contact/press/

Femnet: https://www.femnet-ev.de/index.php/themen/moderne-sklaverei

Terre des hommes: http://saubere-kleidung.de/wp-content/uploads/2016/12/Studie-Moderne-Sklaverei_2016-1.pdf;

Ethical Trade: https://www.ethicaltrade.org/about-eti/what-we-do.

 

 

 

Kommentar:

 

„Die Mutter hat gar nichts gesagt, sie war wie versteinert und der Vater hat bitterlich geweint“.

 (Barbara Küppers: 2019)

 

„Wer wirklich was ändern kann, ist die Politik vor Ort“.

(Barbara Küppers: 2019)

 

„Wir sind bis jetzt in der Situation, dass die Regierung von Tamil Nadu sagt, bei uns gibt es keine Sklaverei. Jeder der das behauptet kriegt Ärger, dass heißt unsere Projektpartner dürfen davon auch nicht so offen sprechen“.

(Barbara Küppers: 2019)

 

„Wir gehen davon aus, dass die Zahl der Selbstmorde von diesen Mädchen enorm gestiegen ist. Aber es gibt keine belastbaren Zahlen“.

(Barbara Küppers: 2019)