2019: Top 4 Steigende Konzentrationen von Arzneimittelrückständen im Leitungswasser

Leitungswasser gilt in Deutschland als das am strengsten kontrollierte Lebensmittel. Es unterliegt strengeren Vorgaben als die viel teureren Mineralwässer. Jedoch gelten die vermeintlich strengen Kontrollen und Grenzwerte längst nicht für alle schädlichen Stoffe. Grenzwerte gibt es beispielsweise nicht für Medikamente, da davon ausgegangen wird, dass sie in nur sehr geringen Mengen im Wasser vorkommen. Experten sind sich allerdings weitgehend einig: In der Zukunft sind höhere Konzentrationen von Medikamentenrückständen im Leitungswasser zu erwarten. Nötig wäre eine vierte Reinigungsstufe in den Klärwerken sowie ein aufgeklärteres Verbraucherverhalten und ein verantwortungsbewussteres Produzentenverhalten. Über dieses Problem wird in deutschen Medien nahezu nicht berichtet.

Sachverhalt & Richtigkeit:

Von Jahr zu Jahr steigt die Konzentration von Arzneimittelrückständen im Leitungswasser da diese derzeit nicht oder nur im geringen Maße von den Klärwerken aus dem Wasser gefiltert werden können. Gleichzeitig wird unsere Gesellschaft immer älter und der Konsum von Medikamenten steigt. Aufgrund der chemischen Beschaffenheit vieler Medikamente ist es nicht einfach, sie aus dem Wasser zu filtern. Eine vierte Reinigungsstufe in den Klärwerken sowie ein aufgeklärteres Verbraucherverhalten und ein verantwortungsbewussteres Produzentenverhalten könnten eine Verbesserung mit sich bringen. Fachleute fordern, die pharmazeutische Industrie an den Kosten für die vierte Klärstufe nach dem Verursacherprinzip zu beteiligen, auch um umweltbewusstere Lösungen in diesem Industriezweig herbeizuführen. Auch wenn die derzeitige geringe Konzentration an Medikamenten im Leitungswasser keine akuten Schädigungen des Konsumierenden beweisfähig macht, so bleibt die Frage offen, ob der kontinuierliche Langzeitkonsum nicht doch zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führt.

Pharmazeut, Apotheker und Chemiker Dr. Manfred Hilp aus Marburg hat bereits 2006 vor dem Problem gewarnt und in der Pharmazeutischen Zeitung erklärt, wie es entsteht. Laut Hilp handelt es sich bei den Arzneistoffen nicht nur um Schmerzmittel wie Ibuprofen oder Diclofenac, sondern auch um Betablocker und empfängnisverhütende Medikamente auf hormoneller Basis.  Auch schon in sehr geringen Dosen schädliche Medikamente, wie iodhaltiges Röntgenkontrastmittel und hoch aggressive Chemotherapeutika (Zytostatika), die bei der Behandlung von Krebs verwendet werden, seien nachgewiesen worden.  Doch wie genau gelangen diese Arzneistoffe ins Trinkwasser, in Flüsse und Seen?

Am Anfang steht der kranke Patient. Gibt es Medikamente, die seine Krankheit heilen oder seine Symptome lindern, werden diese von Ärzten verordnet. Anschließend wirken die Wirkstoffe im Körper des Patienten, doch der Großteil der Wirkstoffe verbleibt nicht im Körper, sondern landet in der Toilette. Über die menschlichen Ausscheidungen gelangen diese, meist über das Abwasser von Krankenhäusern und privaten Haushalten, in ein Klärwerk.

Bisher hat der Großteil der Kläranlagen in Deutschland drei Reinigungsstufen, die darauf ausgelegt sind, erst die groben Verunreinigungen und zuletzt dann auch bestimmte Kleinststoffe und Chemikalien zu filtern. Doch für die Filterung von Arzneimitteln sind sie nicht ausgelegt. Es bräuchte eine neue vierte Reinigungsstufe, für die Pharmazeut Dr. Manfred Hilp einige komplexe chemische Prozesse, wie Umkehrosmose, Filterung durch Aktivkohle oder Ozonierung vorschlägt. Jedoch haben auch diese Verfahren alle ihre Vor- und Nachteile, so sind sie teilweise unerforscht oder erzeugen selbst gefährliche Chemikalien.

Die Problematik wird am Beispiel des Schmerzmittels Diclofenac deutlich. In einer Ausgabe des Deutschen Ärzteblatt 2018 heißt es: „Ob bei Prellungen oder Rheuma: Diclofenac wird als entzündungshemmendes und schmerzstillendes Medikament in Deutschland jährlich etwa 14 Millionen Mal verordnet, mehr als 90 t des nichtsteroidalen Antirheumatikums (NSAR) werden vermarktet. Doch das beliebte Arzneimittel ist ein ‚Umweltsünder‘, denn rund 60 % des Wirkstoffs gelangen durch natürliche Ausscheidungen ins Abwasser. Trotz moderner Klärtechnik ist es bis dato nicht möglich, diese Rückstände aus dem Wasser zu entfernen.“ (Dtsch Arztebl 2018; 115(22): A-1054 / B-886 / C-882)

Laut einer Studie, die der Bundesverband der Energie- und Wasserwirtschaft e.V. verantwortet hat, „wird sich der Humanarzneimittelverbrauch in Deutschland bis 2045 im progressiven Szenario um bis zu 70 Prozent erhöhen und damit die Umwelt und die Wasserwirtschaft vor gewaltige Herausforderungen stellen.“

Die konkreten Vorgaben über die Grenzwerte von Chemikalien im Abwasser von Kläranlagen werden in der Abwasserverordnung geregelt. Nicht geregelt sind darin aber Grenzwerte für Medikamente. Das Bundesministerium für Umwelt, Naturschutz und nukleare Sicherheit bestätigt das: „Eine der größten Herausforderungen in den kommenden Jahren stellen bisher unbeachtete Schadstoffe im Abwasser dar. Dazu gehören Arzneimittelrückstände, Antibiotika aus der Tierzucht oder Chemikalien, die bereits in kleinsten Mengen hormonähnliche Wirkungen zeigen. Um diese Spurenstoffe zu entfernen, reicht die herkömmliche Klärtechnik nicht aus. Zwar gibt es erste Technologien, wie beispielsweise spezielle Membranen oder Oxidationsverfahren, die solche Substanzen entfernen können. Allerdings gibt es bislang für solche Spurenstoffe noch keine gesetzlichen Grenzwerte, an denen sich Anlagenbetreiber orientieren können.“

Dieser Zustand wird von Prof. Dr. Klaus Kümmerer stark kritisiert. Kümmerer ist Professor für Nachhaltige Chemie und Stoffliche Ressourcen an der Leuphana Universität in Lüneburg und wurde 2018 von der Redaktion des Abfallmanager-Medizin zu diesem Thema interviewt: „Aber wir wissen eben nicht, was die chronisch bedeuten. Es gibt immer mehr Stoffe, mit denen wir in chronischen Konzentrationen belastet sind.“, gab er zu bedenken und forderte die Politik auf, lang- und mittelfristige Lösungen zu unterstützen.

Klärwerke bedürften einer vierten Klärstufe, um die Medikamentenrückrückstände effektiver zu im Leitungswasser zu beseitigen. Zum heutigen Stand verlassen die meisten Rückstände von Arzneimitteln die Kläranlage ungefiltert und gelangen in die Oberflächengewässer. Dort wird das Wasser auch zur Gewinnung von Trinkwasser entnommen – und so gelangen die Medikamente, in deutlich geringerer Konzentration, wieder zum kranken Patienten, aber auch zu allen gesunden. Wie Professor Kümmerer schon angeführt hat, gibt es keine Studien, in denen die Auswirkungen des dauerhaften Arzneimittelkonsums in niedriger Konzentration untersucht wurden. Dr. Manfred Hilp warnte darüber hinaus auch, dass die verschiedenen Stoffe auch im Wasser noch miteinander reagieren können. Diese neuen Verbindungen sind oft schädlicher, als die Stoffe allein.

Besonders deutlich wird der Effekt auf den Menschen bei einem von Dr. Manfred Hilp beschriebenen Versuch, mit menschlichen embryonalen Zellen. Den Zellen wurde in vitro die so in der Umwelt nachgewiesene Konzentration, von dreizehn verschiedenen Medikamenten im Nanogramm- Bereich verabreicht. Das Ergebnis: Das Zellwachstum war um ein Drittel gehemmt.

Doch nicht nur der Mensch ist durch die Arzneimittel gefährdet:  Wie groß der kurzfristige Schaden in der Umwelt ist, kann jetzt schon beobachtet werden. Das Umweltbundesamt stufte viele der Stoffe als toxisch für aquatische und terrestrische Organismen ein. Darüber hinaus berichtete Dr. Manfred Hilp über die Auswirkungen des Schmerzmittels Diclofenac auf Vögel, die daran qualvoll gestorben sind. Eben dieses Schmerzmittel in Gewässern führte bei Fischen zu Organversagen. Das wohl größte Problem für männliche Fische sind die Hormone aus Anti-Baby-Pillen, die über das Abwasser in ihren Lebensraum gelangen. Bei männlichen Regenbogenforellen, gerade bei denen die in der Nähe der Abflüsse von Kläranlagen beheimatet sind, findet eine Geschlechtsumwandlung statt. Durch den Einfluss der Medikamentenabfälle bilden sie ein Dotterhormon und feminisieren.

Diese Risiken und Nebenwirkungen sind nur die Auswirkungen auf den Menschen und seine Umwelt, die als wissenschaftlich gesichert gelten. Was die Langzeitfolgen betrifft, besteht großer Forschungsbedarf, da eine Gefährdung nicht ausgeschlossen werden kann (s. alle angegeben Quellen). Da die Arzneimittelkonzentrationen keinen eigenen Analysebereich darstellen und es keine gesetzliche Regelung gibt, ist es schwierig eine Änderung bei den Kläranlagen durchzusetzen. Prof. Dr. Kümmerer hierzu im Interview: „Sie sind sich dessen bewusst, dafür gab es genug Forschung und Publikationen zum Thema. Manche messen hin und wieder. Manche öfter. Manche messen nicht, weil sie sagen: Das macht nur Probleme. Das war im Trinkwasserbereich anfangs auch so. Aber das hat sich zumindest ein bisschen geändert. In der europäischen Wasserrahmenrichtlinie stehen ein paar Arzneimittel auf einer sogenannten Watchlist, so dass einige gemessen werden“. Nur bei den Klärwerken anzusetzen und das Problem durch eine neue Reinigungsstufe beheben zu wollen, ist in den Augen des Professors auch nur die Bekämpfung des Symptoms. Es werden jährlich viele neue Medikamente entwickelt, zugelassen und konsumiert. Die Pharmaindustrie ist ein Milliardengeschäft.  Zumindest wurde ein erster Schritt in eine umweltbewusstere Richtung unternommen. Seit dem ersten Dezember 2006 müssen Unternehmen, die Medikamente neu zulassen wollen, eine Umweltrisikobewertung vorlegen (Environmental Risk Assessment). Allerdings ändert das in der Praxis wenig, denn dass ein Medikament aufgrund seines Umweltrisikos nicht zugelassen wird, ist jedoch nie die Konsequenz, da der Nutzen für den einzelnen Patienten laut Umweltbundesamt bevorzugt behandelt wird.

Ist eine Entscheidung zwischen dem Nutzen für den einzelnen Patienten und sauberem Wasser überhaupt zwingend notwendig? Prof. Dr. Kümmerer verneint das, denn er war mit seinem Team an der Entwicklung eines umweltverträglichen Krebsmedikaments mit patentiertem Wirkstoff beteiligt. Doch die Pharmaunternehmen treiben solche Forschungen nicht wirklich voran, denn „Die Arzneimittelindustrie will noch nicht daran glauben. Leider ist es auch so, dass viele Wirkstoffe einfach aus finanziellen Gründen nicht weiterentwickelt werden. Wie viele Wirkstoffe sterben innerhalb eines Unternehmens, nicht nur, weil sie vielleicht nicht die Eigenschaften haben, die man gern hätte, sondern weil sie für die Unternehmen kurzfristig gedacht nicht rentabel sind“ kritisiert er. Der Versuch, das Problem in den Kläranlagen zu lösen, beurteilt er als weniger erfolgsversprechend und appelliert an alle, die das Problem mit verursachen: „Und deshalb sage ich: Wir müssen an den ‚Anfang des Rohres‘ zurück. Alle Akteure, gerade auch Chemiker, müssen zuallererst die Frage stellen, ob nichtchemische Alternativen für eine gewünschte Funktion möglich und vielleicht nachhaltiger sind. Erst wenn eine chemische Lösung unvermeidlich ist, stellt sich die Frage, welches Produkt die gewünschte Funktion unter Einbeziehung aller Nachhaltigkeitsaspekte bereitstellen kann.“ Demnach wäre es sinnvoll, auch der Pharmaindustrie strengere Auflagen zu erteilen, was die Umweltverträglichkeit der Medikamente betrifft, die neu entwickelt werden.

Momentan wird jedoch nur eine vierte Reinigungsstufe in den zuständigen Kläranlagen diskutiert. Ein Gutachten des Bundesverbands der deutschen Energie- und Wasserwirtschaft, schlägt eine „Umweltsteuer“ auf Arzneimittel als Ansatz für eine Finanzierung vor. Wie man geschätzte 1,2 Milliarden Euro pro Jahr aufbringt, ist noch nicht geklärt. Ob die Pharmaindustrie etwas dazu beisteuern muss oder ob das Geld auf den Verbraucher umgelenkt wird, bleibt abzuwarten.

Relevanz:

Betroffen sind alle Bewohner Deutschlands. Da nicht bekannt ist, wie die Arzneimittel bei dauerhaftem Konsum auf Mensch und die Umwelt wirken, kann eine Gefährdung nicht ausgeschlossen werden. Doch auch die Umwelt leidet nachweislich laut des Umweltbundesamts unter dem Einfluss von Humanpharmaka. Laut Experten steigt der Verbrauch von Medikamenten in Zukunft weiter deutlich an, weshalb die Problematik von Arzneimitteln im Wasser in Zukunft voraussichtlich noch präsenter werden wird. Es gibt noch keine konkrete Lösung wie eine vierte Reinigungsstufe zu finanzieren ist. Experten fordern, die Pharma-Industrie in die Verantwortung für die Konsequenzen ihrer Medikamente zu nehmen. Darüber hinaus ist es laut der Experten wichtig, dass die Bevölkerung informiert ist, Medikamente keinesfalls über den Ausguss zu entsorgen, sondern an Sammelstellen abzugeben oder wenigstens über den Hausmüll zu entsorgen, sofern dieser verbrannt wird.

 Vernachlässigung:

Es wurde kaum über das Thema berichtet. In den Artikeln wurde auf das Thema der Gefährdung von Mensch und Umwelt nicht wirklich eingegangen.

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Quellen:

https://www.abfallmanager-medizin.de/themen/umweltrelevanz-von-cmr-arzneimitteln-zytostatika-im-abwasser/, https://www.umweltbundesamt.de/daten/chemikalien/chemikalienwirkungen#textpart-1,

https://www.pharmazeutische-zeitung.de/ausgabe-472006/arzneimittelbelastung-in-der-umwelt/, https://www.pubmed.de/gateway/nlm-pubmed/, https://www.pubmed.de/gateway/nlm-pubmed/, https://www.pubmed.de/gateway/nlm-pubmed/, https://www.gesundheit.de/medizin/gesundheit-und-umwelt/trinkwasserbelastung-medikamente, https://www.steb-koeln.de/abwasser-und-entwaesserung/der-weg-des-abwassers/das-grossklaerwerk-koeln-stammheim/das-grossklaerwerk-koeln-stammheim.jsp                                              https://www.bmu.de/themen/wasser-abfall-boden/binnengewaesser/abwasser/                        https://www.zeit.de/wissen/umwelt/2018-10/medikamentenrueckstaende-arzneimittelabgabe-wasserwirtschaft-trinkwasser-klaerstufe https://www.umweltbundesamt.de/themen/chemikalien/arzneimittel/humanarzneimittel/arzneimittel-umwelt   https://www.umweltbundesamt.de/themen/wasser/gewaesser/grundwasser/ueberwachung-bewertung                        https://www.umweltbundesamt.de/daten/chemikalien/arzneimittel-in-der-umwelt

  • Dokumente des Umweltbundesamtes (Studien aus dem Jahr 2009, 2011 und 2014) (Montoringdaten, Wirkungen von Zytostatika, Medikamente im Wasser)
  • Studie vom Institut für Energie- und Umwelttechnik e.V. zum Verhalten von Zytostatika in Gewässern

https://www.bdew.de/wasser-abwasser/spurenstoffe-in-gewaessern/arzneimittelverbrauch-im-spannungsfeld-des-demografischen-wandels/