2019: Top 3

Venezuela und das Völkerrecht – Kein Thema?

Der venezolanische Parlamentspräsident Juan Guaidó hat sich selbst zum Interimspräsidenten Venezuelas ausgerufen, während gleichzeitig Nicolás Maduro faktisch weiter als Präsident amtiert, nach einer Wahl, die nicht den Mindestanforderungen an freie Wahlen entsprach, und einer Amtseinführung, die gegen die venezolanische Verfassung verstieß. Viele westliche Staaten wie die USA und auch Deutschland haben Guaidó als neuen Präsidenten anerkannt. Völkerrechtlich ist diese Anerkennung jedoch äußerst fragwürdig. Darüber wird in deutschen Medien jedoch wenig und nachrangig berichtet.

 

Sachverhalt & Richtigkeit:

Seit sich der venezolanische Parlamentspräsident Juan Guaidó zum Interimspräsidenten erklärte, sind einige Wochen verstrichen. Doch trotz der intensiven Berichterstattung liest und hört man wenig darüber, ob die verschiedenen Interventionen des Auslands das internationale Völkerrecht respektieren.

Nicht nur Regierungen, sondern auch viele Medien prangern Verletzungen des Völkerrechts sehr selektiv an. Jedoch ist es auf jeder Ebene der Rechtsordnung essentiell, und keineswegs nur für besonders kleine oder schwache Staaten, sondern auch für vermeintlich große und starke, dass nicht das Recht des Stärkeren gilt, sondern dass Normen, wie sie international namentlich in der UN-Charta festgeschrieben sind, eingehalten werden. Im Zentrum des Völkerrechts steht das in der UN-Charta verankerte Verbot der Gewaltanwendung. Dazu gehören beispielsweise auch einseitige Wirtschaftssanktionen. Das zweite grundlegende UN-Prinzip der Nicht-Einmischung in die inneren Angelegenheiten fremder Staaten bezweckt insbesondere, dass innere Unruhen oder selbst Bürgerkriege in Staaten nicht von stärkeren Mächten oder Nachbarn dazu genutzt werden, sich einzumischen und ihre eigenen Interessen durchzusetzen, wie dies gegen Buchstabe und Geist der UN-Charta auch 2018 fortgesetzt geschieht.

Politisch trat insbesondere Maduro die demokratischen Institutionen offensichtlich mit Füßen. So hat er beispielsweise seinen Amtseid nicht vor dem Parlament geleistet, obwohl dies die venezuelanische Verfassung vorsieht. Der selbsternannte Interims-Präsident Juan Guaidó bezeichnete am 1. Februar 2019 in der „New York Times“ die jüngste Wiederwahl von Maduro zum Präsidenten als illegal, und er bezifferte die Zahl der politischen Gefangenen in Venezuela mit 600. Wann ist es aber legitim oder sogar völkerrechtlich gefordert, dass die USA oder die Staaten der Europäischen Union ein Drittland mit einem faktischen Wirtschaftsboykott ausbluten, Milliardenguthaben dieser Regierung bzw. dieses Staates im Ausland blockieren, Neuwahlen fordern, einen Oppositionellen als neuen Regierungschef anerkennen und ihm finanziell, logistisch und vielleicht schließlich auch militärisch zur Macht verhelfen?

Laut UN-Charta dürften die USA, Russland oder China gegen ein Land nur dann wirtschaftliche oder militärische Gewalt anwenden, wenn der Sicherheitsrat eine solche Intervention mit wirksamer Mehrheit beschließt, weil eine Regierung die Bevölkerung im eigenen Land nicht schützt vor Genozid, Kriegsverbrechen, ethnischen Säuberungen oder schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit. Im Fall von Venezuela wird der Sicherheitsrat für eine ausländische Intervention mutmaßlich kein grünes Licht geben, weil Russland und China als vetoberechtigte ständige Mitglieder einen solchen Beschluss verhindern würden. Es stellt sich jedoch die Frage, ob die wirtschaftliche, soziale, politische und menschenrechtliche Lage in Venezuela einen solchen Beschluss des Sicherheitsrats überhaupt rechtfertigen würde. Kam es zu einem Genozid? Zu Kriegsverbrechen? Zu ethnischen Säuberungen? Zu schweren Verbrechen gegen die Menschlichkeit? Ob wenigstens eine dieser Voraussetzungen für eine Einmischung der Großmächte und des UN-Sicherheitsrats erfüllt ist, darüber sollten die Medien möglichst faktenbasiert informieren.

In seinem Leitartikel in der „New York Times“ vom 1. Februar 2019 stützt sich der selbsternannte Präsident Juan Guaidó auf keine dieser Interventionsbedingungen. Was er geltend macht, sind vielmehr Verletzungen der venezolanischen Verfassung („gesetzwidrige Wahl Präsident Maduros am 20. Mai 2018“), eine humanitäre Krise wegen mangelnder Lebensmittel und medizinischer Versorgung, den Exodus von drei Millionen Einwohnern sowie 600 politische Gefangene.

Venezuela hat den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (ICCPR) unterschrieben. Deshalb seien freie und faire Wahlen keine rein „innere“ Angelegenheit mehr, sagt der Hamburger Völkerrechts-Professor Stefan Oeter. Vertragspartner müssten deshalb Präsident Maduro nicht als Präsidenten anerkennen. Allerdings sieht der ICCPR eine solche Sanktion nicht vor, sondern vielmehr ein Staatenbeschwerdeverfahren. Der ICCPR hat nichts mit dem klassischen Völkerrecht und der UN-Charta zu tun.

Die Frage ist auch, ob überhaupt eine Regierung „anerkannt“ werden kann. Normalerweise spricht man nur von der Anerkennung von Staaten und ihren Grenzen (wie zum Beispiel beim Konflikt um die Halbinsel Krim). Es erstaunt darum, wie viele Medien die Anerkennung Guaidós als Präsidenten als etwas Normales darstellten. Gerade das EU-Parlament hat juristisch gar keine Legitimation, Regierungen oder Staaten anzuerkennen. Die Meinungsäußerung der europäischen Parlamentarier stellt eine rein politische Resolution dar.

Das Anerkennen von „Regierungen“ oder „Präsidenten“, die selbst keine effektive Macht im Land ausüben, kann allerdings einschneidende Folgen haben. Eine anerkannte Regierung könne nicht nur Zugriff auf Staatsgelder im Ausland erlangen, sondern auch das Eingreifen ausländischer Mächte autorisieren, erklärte Professor Oliver Diggelmann, Völkerrechtler der Universität Zürich. Falls Guaidó die USA zu Hilfe rufe, könnten diese selbst ein militärisches Eingreifen völkerrechtlich mit dem Hilferuf legitimieren – so wie dies die Sowjetunion schon 1939 in Finnland, dann bei ihren Interventionen in Osteuropa und auch 1979 beim Einmarsch in Afghanistan getan hat.

Der Wissenschaftliche Dienst des Bundestages hat die Anerkennung des Oppositionspolitikers Guaidó als Interimspräsident durch die Bundesregierung und weitere westliche Staaten in Frage gestellt. Es gebe „starke Gründe“ für die Annahme, dass es sich bei der Anerkennung Guaidós um eine „Einmischung in innere Angelegenheiten“ handelt, heißt es in einer zehnseitigen Ausarbeitung der Bundestagsjuristen. Den Sachstand hat der Abgeordnete der Linksfraktion, Andrej Hunko, in Auftrag gegeben. Die Autoren bezeichnen die Frage, ob die Anerkennung Guaidós als unzulässige Intervention zu bewerten ist, als „durchaus berechtigt“.

 

Relevanz:

Die Krise in Venezuela wurde nicht durch die Anerkennung Guaidós ausgelöst, sie ist viel älter. Auch hat sie ihren Ursprung nicht in der Gegnerschaft der westlichen Mächte oder in deren vermeintlichem Wunsch, sich die venezolanischen Ölvorkommen anzueignen, wie linke Verschwörungstheoretiker fabulieren. Vielmehr haben die Regime Chávez und Maduro den Bankrott dieses reichen Landes durch ihre völlig verfehlte pseudosozialistische Politik auch ohne solche äußere Unterstützung bewerkstelligt. Die Relevanz des Themas liegt in der fortgesetzten Unterminierung des Völkerrechts durch einseitige Deutungen, die den Westen in einem frei entwickelten „humanitären Völkerrecht“ zu Interventionen und „Regime Change“ in unliebsam regierten Ländern gegen die bestehende internationale Rechtsordnung ermächtigen und letztere damit weiter schwächen, durch Präzedenzfälle, die im Übrigen auch andere Mächte, namentlich Russland und China, für sich nutzen können.

 

Vernachlässigung:

Über den Machtkampf in Venezuela haben nahezu alle Medien in Deutschland berichtet. Über die völkerrechtlichen Fragen wird daher nur vereinzelt und sehr knapp berichtet. Venezuela fügt sich damit in eine lange Kette ein: Selektive Anwendung des Völkerrechts gegen die „Klienten“ der „Gegenseite“ (Noriega, Saddam Hussain, Gaddafi, Assad, Janukowitsch, Iran, Serbien, Krim-Sanktionen) bei gleichzeitiger Blindheit gegenüber oder doch Folgenlosigkeit von Völkerrechtsverstößen der „eigenen“ Seite bzw. Durchsetzung eigener Regierungen (Kosovo, Libyen, Saudi-Arabien, Jemen usw.) unterminieren jedoch langfristig das Völkerrecht. Zweifellos stehen die journalistischen Medien hier vor der Schwierigkeit, die Würdigung der rechtlichen Umstände so zu formulieren, dass sie nicht als Parteinahme oder Entschuldigung für das diktatorische, die Menschen- und Bürgerrechte und überhaupt Rechtsstaat und Demokratie mit Füßen tretende Maduro-Regime erscheinen. Auf die deutliche Würdigung der internationalen Rechtsverhältnisse gegen das bloße Gefühl, dass zur Beseitigung des illegitimen Regimes jedes Mittel recht ist, kann jedoch nicht verzichtet werden.

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Quellen:

E-Mail-Verkehr mit Urs Gasche

Artikel auf Telepolis: https://www.heise.de/tp/features/Venezuela-Warum-informieren-Medien-nicht-ueber-das-Voelkerrecht-4298570.html

infosperber.ch und „Schweizerische Stiftung zur Förderung unabhängiger Information“ (SSUI)

Artikel zum Gutachten der wissenschaftlichen Dienste des Dt. Bundestags: https://www.heise.de/tp/features/Juristen-stellen-Anerkennung-von-Venezuelas-Gegenpraesidenten-in-Frage-4303114.html

 

 

 

Kommentar:

„Es handelte sich um eine außerordentlich aggressive Anerkennung. Der Gedanke, dass am Ende eine militärische Intervention der USA stehen könnte, scheint mir nicht aus der Luft gegriffen.“

Prof. Oliver Diggelmann, Völkerrechtler der Universität Zürich in der Schweizer „Tagesschau“