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Weibliche Genitalbeschneidung in Deutschland

Weibliche Beschneidung, auch weibliche Genitalverstümmelung genannt (female genital mutilation, Abk.: FGM), ist im Zuge der Migration auch in Deutschland ein Thema. In Deutschland leben ungefähr 47.300 Frauen und Mädchen, die von weiblicher Genitalbeschneidung betroffen sind. Etwa 5.700 Mädchen gelten hier als bedroht. Über diese Zahlen und die Dringlichkeit weiterer Aufklärung über FGM weiß in Deutschland nur eine Minderheit ausreichend Bescheid.

 

Sachverhalt & Richtigkeit:

Als Waris Dirie im Jahr 1998 ihre Biografie „Wüstenblume“ veröffentlichte, machte sie zum ersten Mal weltweit auf das Thema der weiblichen Genitalverstümmelung aufmerksam. Was damals noch ganz weit weg in Afrika zu passieren schien, ist längst auch bei uns in Deutschland angekommen. In Deutschland sind laut dem Verein „Stop Mutilation“ etwa 47.300 Frauen an ihren Genitalien beschnitten und bis zu 5.700 Mädchen gelten hier als bedroht. Eine Dunkelzifferstatistik der Organisation „TERRE DES FEMMES“ geht von 64.812 Betroffenen und 15.540 Gefährdeten aus. Aufgrund der Globalisierung und steigenden Zuwanderung erlangt das Problem der weiblichen Genitalbeschneidung auch in Deutschland an Bedeutung. Viele emigrierte Familien aus afrikanischen Ländern halten an ihren Traditionen fest.

 

Insgesamt 29 der 55 afrikanischen Länder praktizieren die weibliche Beschneidung vor allem aus rituellen und traditionellen Gründen. In Dschibuti, Guinea, Sierra Leone und Somalia sind über 90 Prozent der Frauen und Mädchen im Land Opfer einer Beschneidung geworden – laut Dunkelzifferstatistik (Terre des Femmes). Insgesamt sind weltweit mindestens 200 Millionen Frauen und Mädchen von Genitalverstümmelung betroffen (UNICEF 2018). Bei FGM handelt es sich um alle Arten von Eingriffen, welche die weiblichen Genitalien verletzen sowie teilweise oder vollständig entfernen. Die Weltgesundheitsorganisation (WHO) benennt vier praktizierte Formen der weiblichen Genitalbeschneidung (UNICEF 2018) . Typ I bedeutet für die Betroffene das Verletzen oder vollständige Entfernen ihrer Klitoris-Vorhaut und/oder ihrer gesamten äußeren Klitoris. Dieser Teil ist besonders empfindlich und maßgeblich für die sexuelle Erregung sowie den Orgasmus der Frau. Der Facharzt für Gynäkologie Dr. Christoph Zerm verdeutlicht, was ein solches Ausmaß der Beschneidung für einen Mann an dieser Stelle bedeutet würde: „Entwicklungsbiologisch entspricht die Klitoris der Frau dem Penis beim Mann. Eine vollständige oder auch Teil-Entfernung (Typ I nach WHO) würde beim Mann der teilweisen oder vollständigen Penisamputation entsprechen“. Die Exzision, der Typ II der weiblichen Genitalbeschneidung, bedeutet, dass den Frauen und Mädchen der äußerliche Teil ihrer Klitoris sowie die inneren und/oder äußeren Schamlippen teilweise oder ganz entfernt werden. Die folgenschwerste Form der weiblichen Genitalbeschneidung ist Typ III, die Pharaonische Beschneidung bzw. Infibulation. Hierbei werden den Mädchen und Frauen große Teile ihrer Klitoris und der inneren und/oder äußeren Schamlippen herausgeschnitten. Die Wundränder werden anschließend zusammengenäht. Lediglich eine kleine Öffnung, so groß wie ein Reiskorn, wird mittels Einführen eines Fremdkörpers offen gehalten, sodass Urin und Menstruationsblut abfließen können. Infibulierte Frauen werden meist zum sexuellen Verkehr von ihrem Ehemann oder zur Geburt eines Kindes wieder gewaltsam geöffnet. Zu Typ IV der von der WHO formulierten Formen der weiblichen Genitalbeschneidung gehören Praktiken wie Einstechen, Durchbohren, Einschneiden, Abschaben, Wegbrennen oder Wegätzen des Genitalgewebes von Mädchen und Frauen.

 

Der Zeitpunkt der Beschneidung eines Mädchens oder einer Frau hängt stark von der zugehörigen Ethnie ab. Manche Frauen werden erst kurz vor ihrer Hochzeit oder nach der Geburt ihres ersten Kindes beschnitten, andere Beschneidungen finden im Säuglingsalter statt. Meist werden die Mädchen im Alter von 4 bis 14 Jahren beschnitten. Trotz Verbots (z. B. Ägypten) und Aufklärungsinitiativen findet die Praxis vor allem in den ländlchen Regionen afrikanischer Länder nach wie vor statt. Der Eingriff selbst wird von sogenannten Beschneiderinnen durchgeführt. Wegen mangelnden medizinischen und anatomischen Wissens kommt es bei der Beschneidung jedoch oft zu Verletzungen anderer Organe, beispielsweise der Harnröhre. Für den Eingriff wird die Betroffene weder betäubt, noch werden hygienische Bedingungen geschaffen. Die Beschneiderin arbeitet meist mit einem mehr oder minder scharfen Gegenstand wie einer alten Rasierklinge, einem stumpfen Messer oder einer Glasscherbe. Die Werkzeuge werden mitunter für mehrere Mädchen verwendet. Infektionen und Übertragungen von HIV/AIDS sind häufig das Resultat. Als absolutes Tabu-Thema wird über die weibliche Genitalbeschneidung nicht gesprochen und die Mädchen wissen nicht, was sie erwartet und welche lebensverändernden Konsequenzen der Eingriff für sie bedeutet. Dabei erleiden sie schließlich so unvorstellbare Schmerzen, dass sie nicht selten das Bewusstsein verlieren. Viele Betroffene verdrängen das traumatische Erlebnis.

 

Eine naheliegende Lösung ist daher, so viele Beschneiderinnen wie möglich davon abzubringen, ihre Tätigkeit auszuüben. Dies geschieht zum einen, indem man sie über die Risiken und Folgen der weiblichen Genitalbeschneidung aufklärt und zum anderen, indem man ihnen eine adäquate Alternative für ein Einkommen bietet. Aufgrund ihrer respektierten Stellung, können die ehemaligen Beschneiderinnen zur Aufklärung in ihrem Umfeld beitragen. „[Beschnittene] Frauen haben lebenslang eine herabgesetzte Schmerzschwelle“, erklärt Dr. med. Christoph Zerm, der selbst schon viele Erfahrungen mit FGM-Patientinnen gesammelt hat und sich gegen die weibliche Genitalbeschneidung einsetzt. Die Verletzungen können nicht rückgängig gemacht werden. Etwa 10 Prozent der Mädchen und Frauen sterben nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation bereits an den akuten Folgen der Beschneidung. Bei Typ III, der Infibulation, sind es sogar 30 Prozent. Weitere 25 Prozent der Betroffenen erliegen den langfristigen Auswirkungen. Infektionen durch HIV/Aids, Hepatitis oder schwerwiegende Komplikationen bei der Geburt ihres Kindes sind häufige Todesursachen. Die überlebenden Frauen und Mädchen kämpfen täglich mit Beschwerden wie chronischen Entzündungen. Die immerwährenden Schmerzen sind oft so stark, dass etwas Alltägliches wie Sitzen über längere Zeit nicht möglich ist. Das Wasserlassen ist so schmerzhaft, dass viele junge Mädchen krampfhaft versuchen, den Urin zurückzuhalten. Infibulierte Frauen leiden häufig an Blutstau während der Menstruation, was wiederum zu Unfruchtbarkeit führen kann. Durch das Narbengewebe und die verengte Vagina, kann es zu einem Geburtsstillstand kommen. Die sexuelle Empfindsamkeit ist bei einer hohen Zahl der FGM-Betroffenen gar nicht mehr vorhanden. Dr. med. Christoph Zerm sagt dazu ausdrücklich: „Nur von einer Störung der Sexualität zu reden, ist eine Verharmlosung“. Denn neben den körperlichen Langzeitfolgen bedeutet die weibliche Genitalbeschneidung ebenfalls eine seelische Verletzung. Viele beschnittene Mädchen und Frauen erleiden einen kompletten Vertrauensverlust, einen Verlust ihres Selbstwertgefühles und empfinden auch ihre Weiblichkeit als verloren. Ihr Leben ist von Angst vor Intimität, intensiven Schamgefühlen und Traumata geprägt. Nicht selten fühlen sich FGM-Patientinnen sozial isoliert und entwickeln depressive Gedanken.

 

Um die Menschen, die dieses Leid auslösen zur Verantwortung zu ziehen, wurde im Jahr 2013 mit § 226a StGB der Straftatbestand der Verstümmelung weiblicher Genitalien in das Strafgesetzbuch aufgenommen. Dies bedeutet genauer, dass wer „die äußeren Genitalien einer weiblichen Person verstümmelt“, mit einer Freiheitsstrafe nicht unter einem Jahr zu rechnen hat. Mit diesem Gesetz sollen Betroffene „verstärkt geschützt und das Bewusstsein für das Unrecht der Genitalverstümmelung geschärft werden“. Der Tatbestand fällt sowohl unter die gefährliche als auch die schwere Körperverletzung. Strafbar machen sich dabei nicht nur die Personen, welche die Beschneidung durchführen, sondern ebenso die Eltern als Anstifter, welche den Eingriff veranlassen oder als Beihilfe, wenn sie vermitteln und/oder die Tat finanziell unterstützen.

 

Da die meisten Fälle in Deutschland sogenannte „Ferienverstümmelungen“ sind, bei denen die Mädchen in den Ferien zur Beschneidung ins Ausland gebracht werden, gab es zunächst Unklarheiten zur Anwendbarkeit des deutschen Strafrechts in Auslandsfällen. Eine Straftat liegt gemäß § 9 Abs. 2 StGB vor, wenn beispielsweise das Veranlassen oder die Hilfeleistung einer Beschneidung im Inland vorgenommen wurde, auch wenn die eigentliche Tat im Ausland stattfand. Sofern das Opfer einen Wohnsitz oder gewöhnlichen Aufenthalt in Deutschland hat, ist das deutsche Recht, unabhängig vom Recht des Tatorts, anwendbar. Die juristische Beraterin Annalena Goettsche kommentierte wie folgt: „Das Problem ist, dass es sehr wenig erfasste Fälle und noch weniger Daten zu diesem Thema gibt. In Deutschland gibt es so gut wie keine Statistiken dazu.“

 

FGM existiert bereits seit der vorchristlichen und vorislamischen Zeit. Darum lässt sich das Ritual auch nicht einem bestimmten Glauben zuweisen, denn sowohl Christinnen, Muslima als auch andere Anhängerinnen von traditionellen Religionen sind beschnitten. Die Annahme, dass der Eingriff aus ästhetischen Gründen vorgenommen werde, wird häufig bestätigt. Beschnittene Genitalien sind in vielen afrikanischen Gesellschaften das Schönheitsideal, weil die äußeren weiblichen Genitalien für schmutzig und hässlich gehalten werden. Entgegen aller Tatsachen, besteht außerdem der Glaube, eine Beschneidung der Frau hätte gesundheitliche Vorteile. Oft herrscht der Irrtum, die Klitoris würde bei der Geburt stören, dem neugeborenen Kind schaden oder die Fruchtbarkeit der Frau verringern. Die weibliche Genitalbeschneidung wird in vielen Kreisen als Einführungsritual ins Erwachsensein zelebriert. Das Mädchen, welches nun symbolisch zur Frau wird, soll durch den Eingriff rein und heiratsfähig sein. Nicht nur die Jungfräulichkeit der Betroffenen wird kontrolliert, sondern ihre ganze Sexualität. Durch FGM wird verhindert, dass Betroffene sexuelle Erfahrungen machen, geschweige denn genießen können. Die Frauen werden auf diese Art geschwächt. Sie werden kontrolliert und ihre Selbstbestimmtheit wird ihnen weggenommen. „Frauen sollen durch das Verletzten, durch das Abschneiden von Körperteilen, auch von der Gesellschaft abgeschnitten werden“, begründet Dr. Christoph Zerm das Vorkommen einer solchen Tradition.

„Das allerwichtigste bei dem Thema ist eine Sensibilisierung der Gesellschaft. Man sollte sensibel durch Information und Aufklärung helfen“, antwortet Dr. med. Christoph Zerm auf die Frage, wie es für eine normale Einzelperson möglich ist zu helfen. Nicht nur die finanzielle Unterstützung von Organisationen und Vereinen ist eine Option. Durch Information und Aufklärung und mit ganz viel Einfühlsamkeit sollten menschliche Verbindungen zu jenen Kulturen geschaffen werden, anstatt sie durch Unwissenheit zu verurteilen.

 

Relevanz:

Durch den Zulauf von Menschen aus Nord-, West- und Ost-Afrika steigt auch die Zahl betroffener Frauen und Mädchen bzw. potentiell gefährdeter Frauen in Deutschland. Die weibliche Beschneidung verstößt gegen das deutsche Strafgesetz und fällt unter gefährliche und schwere Körperverletzung. Es ist wichtig, dass die breite Masse über dieses Thema aufgeklärt wird und auch Betroffene gehört und wahrgenommen werden. Die Fragen, „Wie können Opfer im Nachhinein unterstützen werden?“ „Was kann im Vorfeld getan werden, um zukünftige Fälle von Genitalverstümmelung zu vermeiden?“ sollten thematisiert werden.

 

Vernachlässigung:

Über die weibliche Genitalbeschneidung speziell in Deutschland haben im Jahr 2018 Medien wie die Welt, die Deutsche Welle, die Seite von SOS-Kinderdorf und das Deutsche Ärzteblatt berichtet. Hierbei handelt es sich um eine Art kurzen thematischen Aufschwung der „Ferienverstümmelung“. Der moralische Gestus scheint dabei aber häufig gegenüber der sachlichen Information zu überwiegen. Das Thema ist in Deutschland kaum in der allgemeinen Berichterstattung zu finden, sondern wird lediglich in den Fachmedien genauer beleuchtet. Vernachlässigt wird auch die Perspektive, den Rezipienten aufzuzeigen, inwiefern sie sich engagieren und den Betroffenen helfen können.

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Quellen:

 

Kommentar:

„Diese Frauen haben lebenslang eine herabgesetzte Schmerzschwelle“.

(Dr. med. Christoph Zerm, Gynäkologe)

 

„Frauen sollen durch das Verletzten, durch das Abschneiden von Körperteilen, auch von der Gesellschaft abgeschnitten werden“.

(Dr. med. Christoph Zerm, Gynäkologe)

 

„Eine Rekonstruktion ist fast wie eine neue Geburt. Das ist ein Wiedergeschenk der Empfindlichkeit, das Frauen zum ersten Mal wissen lässt, was Sexualität bedeutet. Die Frau kann nun selbstbestimmt sein und kann am Leben selbst teilnehmen, kann selbst empfinden“.

(Dr. med. Christoph Zerm, Gynäkologe)

 

„Das allerwichtigste bei dem Thema ist eine Sensibilisierung der Gesellschaft. Man sollte sensibel durch Information und Aufklärung helfen“.

(Dr. med. Christoph Zerm, Gynäkologe)

 

„Das Problem ist, dass es sehr wenig Fälle und noch weniger Daten zu diesem Thema gibt. In Deutschland gibt es so gut wie keine Statistiken dazu“.

(Annalena Goettsche, juristische Beraterin von FGM-Betroffenen)