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Die Zwangssterilisation von Roma-Frauen in der Tschechischen Republik

Über Jahrzehnte wurden in der damaligen Tschechoslowakei im Auftrag der Regierung Frauen der Roma-Minderheit, die schon durch den NS-Völkermord an sogenannten „Zigeunern“ stark dezimiert war, gegen ihren Willen zwangssterilisiert. Tausende Frauen waren betroffen. Auch nach demokratischer Wende (1989) und Auflösung der Tschechoslowakei (1993) wurde die Praxis in der Tschechischen Republik fortgesetzt, der letzte dokumentierte Fall ereignete sich 2007. Zwar erfolgte später eine Entschuldigung der Regierung, doch eine Entschädigung für die Frauen ist bis heute nicht erfolgt. Die Regierung Tschechiens betrachtet die Vorgänge als mit der Entschuldigung abgeschlossen und sperrt sich gegen eine weitere Aufarbeitung. Die Zwangssterilisierungen und ihre fehlende Aufarbeitung sind außerhalb Tschechiens, auch im Nachbarland Deutschland mit seiner besonderen historischen Verantwortung, fast völlig unbekannt.

Sachverhalt & Richtigkeit:

Im Zweiten Weltkrieg wurden im von NS-Deutschland beherrschten Europa neben den Juden auch die sogenannten „Zigeuner“ systematisch mit dem Ziel ihrer völligen Ausrottung verfolgt und zu Hunderttausenden brutal ermordet. In den östlichen Landesteilen der 1938/39 zerschlagenen Tschechoslowakei, wo das NS-Regime bis 1944 nur indirekt durch die slowakische und ungarische Regime herrschte, überlebten dennoch tausende Roma die Verfolgungen in Arbeitslagern. Nach Kriegsende wurden viele dieser Roma in die westlichen Landesteile der Tschechoslowakei, vor allem nach Böhmen umgesiedelt, vor allem in die menschenleere Zone, wo die deutsche Minderheit bis zu ihrer Vertreibung 1945/46 gelebt hatte.

Die katastrophale Lage und systematische Diskriminierung der Roma, die sich früher im ländlichen Osten unsichtbar zugetragen hatte, fand nun in Städten des Westens sichtbaren Ausdruck. Die Behörden der ČSSR beschlossen Ende der 1960er Jahre eine Politik der Zwangssterilisierung von Roma-Frauen, um das Anwachsen dieser als Problem wahrgenommenen Gruppe zu bekämpfen. Auch nach der demokratischen „samtenen Revolution“ 1989 und nach der Auflösung der Tschechoslowakei zum Jahreswechsel 1992/93 wurde diese Politik in der Tschechischen Republik nicht beendet; noch 2007 sind Fälle dokumentiert, insgesamt gab es tausende von Opfern.

Somit wurden fast vier Jahrzehnte lang Frauen gegen ihren Willen und ohne ihr Wissen sterilisiert. „Vor allem unter der „alten“ Gesetzgebung waren die Voraussetzungen für die Durchführung einer solchen Behandlung, der Sterilisation einer Person, sehr vage. Deshalb war es relativ einfach, sie zu missbrauchen“, erklärt Zusanna Melcrova, Mitarbeiterin der Organisation „The Public Defender of Rights“. Hinzu kam, dass eine rassenorientierte Ideologie herrschte, welche vom Staat ausging.

Die Zwangssterilisationen erfolgten meistens in Krankenhäusern, welche zum damaligen Zeitpunkt alle staatlich finanziert wurden, was dem Staat die Regulierung der Geburten von Roma-Frauen ermöglichte. Ebenfalls zu erwähnen ist, dass es laut eines Artikels des ,,Czech Helsinki Committee“ Frauen in der Tschechischen Republik, damals wie heute, nicht erlaubt ist frei zu wählen, wie und wo sie gebären wollen. Denn auch heute noch ist es in der Tschechischen Republik nicht erlaubt, dass Frauen ihr Kind mit Hilfe einer Hebamme gebären, da die Existenz von Geburtseinrichtungen, die keine Krankenhäuser sind, verboten ist. Die betroffenen Frauen besuchten die Krankenhäuser in der Regel für die Entbindung oder in einigen Fällen auch zu einem Schwangerschaftsabbruch. Bevor die Frauen jedoch behandelt werden durften, mussten sie – wie auch in europäischen Krankenhäusern üblich – eine Einverständniserklärung unterzeichnen, welche sie über die Risiken, Nebenwirkungen und Alternativen aufklären sollte. Jedoch waren die Bedingungen der Einverständniserklärungen laut der Organisation ,,The Public Defender of Rights“ nicht hinreichend definiert, was den Krankenhäusern Interpretationsspielraum freihielt. Die kompliziert und mit medizinischen Fachausdrücken formulierten Erklärungen waren außerdem von den Frauen, angesichts verweigerter Bildungschancen vielfach Analphabetinnen oder nur mit einfachster Schulbildung, nicht zu verstehen.

Darüber hinaus wurden die Einverständniserklärungen den Frauen meistens erst kurz vor dem Eingriff zur Unterzeichnung vorgelegt. Die Frauen befanden sich also schon seit mehreren Stunden in den Wehen und empfanden starke Schmerzen, als sie die Dokumente unterzeichnen sollten. Laut Aussage von Sandra Poskova, Mitarbeiterin der Organisation ,,League of Human Rights“ kam hinzu, dass sie sich bei der Unterzeichnung schon so kurz vor der Operation befanden, sodass sie oftmals gar nicht die Zeit hatten die Dokumente durchzulesen. Während des darauffolgenden Kaiserschnitts oder dem Eingriff zum Schwangerschaftsabbruch machten die Ärzte nicht nur ihren Job, sondern trennten darüber hinaus auch die Eileiter der Frauen ab, so dass eine erneute Schwangerschaft ausgeschlossen war.

So kam es nach Aussage der Organisation ,,The Public Defender of Rights“ nicht selten vor, dass Frauen die eine Zwangssterilisation erfuhren, oftmals viele Jahre nicht wussten, dass sie überhaupt solch einer Behandlung unterzogen wurden. Sie versuchten sogar weiterhin schwanger zu werden, und erst nach vielen Jahren des Versuchs ohne Ergebnis und dem Besuchen verschiedener Ärzte erkannten sie, dass der Grund eine Zwangssterilisation war.

In einigen Fällen konnte sogar nachgewiesen werden, dass die Frauen gar keinen Eingriff durch einen Kaiserschnitt benötigten, da sie ihr Kind auch auf natürlichem Weg hätten gebären können.

Ein besonders bekannter Fall der Zwangssterilisation ist der von Elena Gorolova, welche mit nur 21 Jahren bei der Geburt ihres zweiten Sohns zwangssterilisiert wurde. Und das ausgerechnet von dem Arzt, welcher ihren Sohn davor das Licht der Welt erblicken ließ. Elena war eine der ersten Frauen, die das Thema Zwangssterilisation öffentlich ansprachen und verlieh somit auch anderen Frauen den Mut, ihre Geschichte zu erzählen. Laut einem Bericht der United Nations folgten kurz darauf 80 weitere Frauen dem Beispiel Elena Gorolovas und setzten sich mit dem öffentlichen Verteidiger der Rechte der Tschechischen Republik in Verbindung.

Zusanna Melcrova, Mitarbeiterin der Organisation ,,The Public Defender of Rights“ sagt: ,,Der öffentliche Verteidiger der Rechte der Tschechischen Republik erhielt seither mehr und mehr Beschwerden von solchen Frauen (Otakar Motejl war der Ombudsman zu dieser Zeit). Der Ombudsman konnte wegen der gesetzlichen Einschränkungen seines Mandats nicht viel für diese Frauen tun, da die Zwangssterilisationen bereits Jahre zurücklagen. Deshalb riet er ihnen oftmals vor Gericht zu ziehen und eine Klage einzureichen, um eine Entschädigung zu beantragen. Allerdings stellte sich während der Gerichtsverfahren heraus, dass das Recht auf Entschädigung dieser Frauen bereits verjährt ist. Daher konnte von den Gerichten keine Entschädigung gewährt werden. Als Reaktion auf dieses Rechtsproblem startete Otakar Motejl eine Kampagne und versuchte das Ministerium zu überreden, ein Gesetz zu veranlassen, wonach die Frauen hätten entschädigt werden können. Es entstand sogar solch ein Gesetzesentwurf, welcher jedoch nie in Kraft trat, da die Regierung große Bedenken hatte, dass das Gesetz „missbraucht“ werden könnte. Von diesem Zeitpunkt an (2015) gab es in dieser Hinsicht keine weitere Tätigkeit auf der Seite des Ministeriums.

Relevanz:

Die Zwangssterilisation von Frauen – ganz unabhängig von ihrer Hautfarbe, Religion oder Herkunft – ist rechtswidrig, da sie eine Verletzung der Menschenrechte darstellt. Entsprechend wichtig ist es, dass solch eine Thematik für die Öffentlichkeit zugänglich gemacht wird. Vor allem die Transparenz der Medien und das Einschreiten von Journalisten sollte hierbei im Vordergrund stehen. Nicht ohne Grund nennt man die Medien die vierte Gewalt. Und wo ist diese vierte Gewalt mehr von Nöten als da, wo die restlichen drei Gewalten – Regierung, Parlament und Justiz – bereits versagt haben?

Vernachlässigung:

Im Laufe der Recherche stellte sich heraus, dass die Zwangssterilisationen außerhalb Tschechiens weitgehend unbekannt sind. Kaum eine Organisation, welche nicht aus Tschechiens stammt, hat sich mit der Thematik befasst.

Hin und wieder tauchen Artikel auf, welche die Thematik anschneiden, wobei jedoch nicht aufgearbeitet wird, dass die Frauen auch bis heute noch nicht entschädigt wurden. Es scheint ganz so als wäre nicht nur die Regierung der Tschechischen Republik der Meinung, dass die Fälle der gegen ihren Willen sterilisierten Roma-Frauen verjährt und erledigt sind.

Quellen:

E-Mail-Verkehr mit Sandra Paskova, Mitarbeiterin der Organisation „League of Human Rights“.

E-Mail-Verkehr mit Zusana Melcrova, Mitarbeiterin der Organisation ,,The Public Defender of Rights“.

Homepage des Czech Helsinki Committee: Stellungnahme zu der Problematik, dass Frauen in Tschechien nicht selbst entscheiden dürfen, wo und wie sie ihr Kind gebären, sondern gezwungen sind, Krankenhäuser aufzusuchen.

Die United Nations: veröffentlichten auf ihrer Webseite den Fall der Elena Gorolova.

Die Website romea.cz enthält den Artikel: http://www.romea.cz/en/news/world/live-online-czech-government-to-answer-questions-about-illegal-sterilizations-mostly-of-romani-women-from-un-committee

Hier wird die heute noch bestehende Aktualität des Themas angesprochen, da die Frauen immer noch nicht entschädigt wurden, sowie dass die Organisation ,,The Public Defender of Rights“ oftmals ihre einzige Hilfe ist.

Kommentar:

,,Erstens war es eine sehr komplexe Formulierung, zwar keine Fremdsprache jedoch Sätze voller komplizierter medizinischer Fachwörter. Zweitens, wurden die Einverständniserklärungen den Frauen meistens erst kurz vor dem Eingriff zur Unterzeichnung vorgelegt. Die Frauen befanden sich also schon seit mehreren Stunden in den Wehen und empfanden starke Schmerzen, als sie die Dokumente unterzeichnen sollten. Hinzu kommt, dass sie sich bei der Unterzeichnung schon so kurz vor der Operation befanden, dass sie oftmals gar nicht die Zeit hatten die Dokumente durchzulesen.“ (Sandra Paskova, Mitarbeiterin der Organisation „League of Human Rights“)

„Zur damaligen Zeit gab es in der Tschechischen Republik noch keine privat finanzierten Krankenhäuser, es geschah also zwar in unterschiedlichen Krankenhäusern, welche jedoch alle staatlich finanzierte Krankenhäuser waren. Es ist zwar bekannt, dass Zwangssterilisationen häufiger in bestimmten Bezirken auftauchten, dies lag jedoch eher daran, dass dort mehr Roma lebten.“ (Sandra Paskova, Mitarbeiterin der Organisation „League of Human Rights“)

„Allerdings entschied sich später, während der ersten Gerichtsverfahren, dass das Recht auf Entschädigung dieser Frauen bereits abgelaufen war.“ (Zusana Melcrova, Mitarbeiterin der Organisation ,,The Public Defender of Rights“)