2018: Top 8

Gewalt gegenüber Beschäftigten in psychiatrischen Einrichtungen

Beschäftigte in psychiatrischen Einrichtungen sind vermehrt Gewalt von psychisch kranken Patienten ausgesetzt. Eine nicht repräsentative Umfrage der Gewerkschaft Verdi ergab, dass Übergriffe auf das Pflegepersonal innerhalb der letzten fünf Jahren zugenommen haben. Die Ursachen lägen einerseits in Überbelegungen vieler Einrichtungen, andererseits seien mangelnde Qualifikation des Pflegepersonals im Umgang mit Aggressionen und gewalttätigem Verhalten ein Grund. Noch unerfahrenes Personal wird immer früher auch in Nachtschichten und sogar in Aufnahmestationen eingesetzt, wo oftmals alkoholisierte und unberechenbare Patienten auftauchen.

Sachverhalt & Richtigkeit:

Gewalt gibt es überall auf der Welt. Auch im „Zentrum für Psychiatrie Emmendingen (ZfP)“ nahe Freiburg, in dem jährlich über 7.500 Patientinnen und Patienten stationär behandelt werden. Die Pflegerin Sabine M. (Name geändert) erfuhr am eigenen Leib einen gewaltsamen Angriff durch einen alkoholisierten Patienten.

„Wir hatten an diesem Tag alle Hände voll zu tun und waren abends nur zu zweit auf einer Station mit knapp 20 Patienten. Als ich bei einem Rundgang nach einem Patienten sehen wollte, der tagsüber das Klinik-Gelände verlassen durfte, bewarf er mich mit einer Holzskulptur, die auf dem Tisch stand und rannte auf mich zu. Er schrie laut und beleidigte mich. Zum Glück konnte ich schnell reagieren und bin aus dem Zimmer geflüchtet und habe es hinter mir verschlossen. Der Patient ließ seine Wut dann an den im Zimmer stehenden Möbeln aus.“

Laut Frau M. kommt es immer wieder vor, dass man von Patienten beleidigt wird. Von dem körperlichen Angriff habe sie einen Schock erlitten und achte seither mehr auf mögliche Gefahren oder Merkmale, die auf eine Gefahr für sie hinweisen.

Sabine M. ist eine von ungefähr 80.000 Beschäftigten bundesweit, die in ca. 400 Einrichtungen mit stationärer, psychiatrischer Behandlung arbeiten. Knapp die Hälfte dieser Einrichtungen sind psychiatrische Fachkliniken. Insgesamt werden jährlich schätzungsweise 1,2 Millionen Menschen stationär behandelt und in ihren Anpassungsprozessen von Pflegekräften und Ärzten begleitet.

Man muss Gewalt an Beschäftigten ernst nehmen, weshalb die Gewerkschaft „ver.di“ eine nicht repräsentative Online-Befragung unter den mit ihr zusammenarbeitenden Interessensvertretungen (psychiatrische Krankenhäuser, Forensiken und Gemeindepsychiatrien) durchführte, um sich ein genaues Bild machen zu können.

80% aller Befragten gab an, dass physische Angriffe mit darauffolgender Arbeitsunfähigkeit der Beschäftigten in den letzten fünf Jahren zugenommen haben. Eine starke Zunahme registrierten sogar 40% aller Befragten. Übergriffe, die keine Krankheitstage beim Personal zur Folge hatten, wurden von knapp 89% der Interessensvertreter dokumentiert.

Die Dunkelziffer der Gewaltausbrüche sei noch viel höher, da die Opfer die Attacken dokumentieren müssen, wozu oft die Kraft und die Zeit während ihrer Schicht fehle. „Viele Angriffe werden auch als normal oder alltäglich abgestempelt und lösen in der Summe dann Traumata bei den Betroffenen aus“, wie Lilian Kilian, die Personalratsvorsitzende des ZfP Weissenhof konstatiert.

Vor allem die Beschäftigten in Aufnahmestationen oder in geschlossenen Bereichen werden häufig Opfer solcher Angriffe, da sie es oftmals mit alkoholisierten oder psychisch kranken Straftätern zu tun haben, die als unberechenbar gelten. Die Gründe für die zunehmende Gewalt sieht der Pflege-Experte Siegfried Huhn besonders im großen Ganzen: „Die Gewalt ist ein institutionelles Problem. Es gibt keine klaren Regeln für problematische Situationen. Die Mitarbeiter haben oftmals keine Orientierung in einer Notfall-Situation.

So kann ein Konflikt schnell eskalieren.“

Gisela Neunhöffer von der Gewerkschaft „ver.di“ sieht die Gründe für die von den Patienten ausgehende Gewalt in der Überbelegung der Einrichtungen und der häufig mangelnden Qualifikation des Pflegepersonals: „Wir haben einfach zu wenig Zeit für die Ausbildung des Personals. Häufig werden die Unerfahrenen zu früh allein in den Berufsalltag geschickt und müssen sich dann in der Nachtschicht allein oder zu zweit um mehrere Patienten kümmern. Dazu kommt auch die Überbelegung vieler Häuser, die auch nicht einfach durch mehr Personal kompensiert werden kann.“

Dazu passend geben drei von fünf befragten Interessensvertretern an, dass weniger als 90% der notwendigen Pflegekräfte zur Verfügung stehen, „und die offenen Stellen oft mit kostengünstigerem, unqualifizierterem Personal besetzt werden“ meint Frau Kilian.

Alle Gesprächspartner bekräftigen auch, dass es zu eindimensional sei, die Schuld nur bei den psychisch kranken Menschen zu suchen. Denn vor allem die Ausbildung und speziell die Vorbereitung auf die Aufgaben eines Psychiatrie-Pflegers/ einer Psychiatrie-Pflegerin, zu denen auch die Deeskalation bei Gewaltausbrüchen gehört, wurde in den vergangenen Jahren zu sehr vernachlässigt. Kritisiert wird überwiegend, dass neue, unerfahrene Pflegekräfte zu schnell allein gelassen werden und nicht von erfahreneren Mitarbeitern begleitet und betreut werden. In einer unbekannten Situation allein gelassen zu werden, führt bei vielen Beschäftigten zur Überforderung und somit zu falschen Entscheidungen und Fehlern, die im Umgang mit Patienten die beidseitige Gewaltbereitschaft steigern kann.

Grundlage für eine gewaltfreie Zusammenarbeit zwischen dem Behandelnden und dem Patienten ist eine moderne Psychiatrie-Kultur. Noch in den 1980er -und 90er-Jahren wurde überwiegend auf konservative Weise behandelt. Der Arzt bzw. die Pflegekraft stand damals über dem Patienten und diese Rangordnung führte oft zu Attacken, da die eine Partei der anderen immer wieder ihre Stellung demonstrieren wollte.

In vielen Einrichtungen wird heutzutage vermehrt Wert auf eine Therapie auf Augenhöhe gelegt, was nach Aussage des Klinikums in Weissenhof zu weniger Gewalt zwischen beiden Parteien geführt habe.

Um bundesweit für eine Verbesserung der Situation zu sorgen, benötige man nach Ansicht der Gewerkschaften, Einrichtungen und Experten mehr Zeit in der Vorbereitung auf schwierige Situationen. Es bedarf außerdem Ansprechpartner vor Ort, mit denen die Betroffenen reden können, Notfall-und Nachsorgemaßnahmen und an jedem Standort eine bessere bauliche Infrastruktur und Personalsituation. Vor allem aber muss man in der Pflege und auch außerhalb in einer ausgewogenen Gesprächssituation, fern von Vorurteilen und Stereotypen, über das Thema der Gewalt in psychiatrischen Einrichtungen reden.

Denn wenn diese Problematik unterrepräsentiert bleibt, kann den Betroffenen nicht ausreichend geholfen werden.

Die Emmendinger Pflegekraft Sabine M. legt ihr Hauptaugenmerk auf einen anderen Aspekt: „Ich glaube nicht, dass die Gewalt in der Pflege zugenommen hat, sondern dass sich der Umgang mit ihr verändert hat.“

Ihre Art mit Gewalt umzugehen, hat sich auf jeden Fall geändert. Sie belässt es bei einer professionellen Distanz, um sich nicht mehr in Gefahr zu bringen.

Relevanz:

Betroffen sind ca. 80.000 Pflegekräfte, die in psychiatrischen Einrichtungen direkt oder indirekt mit Gewalt konfrontiert werden können. 1,2 Millionen Patienten, mit teils erheblichen psychischen Belastungen werden jährlich stationär behandelt. Gewalttätige Übergriffe sind daher nicht immer zu umgehen, aber ein geschulter, professioneller Umgang kann Situationen deseskalieren und Personal schützen.

Vernachlässigung:

Viele Medien berichten über das Thema „Gewalt in der Psychiatrie“, dennoch gibt es nur wenige Bezüge zur Gewalt an den Beschäftigten in den Einrichtungen. Gerade in den aktuellen Beiträgen wird vor allem auf den Gesetzesentwurf der Zwangsgewalt und die damit verbundene Debatte eingegangen und alles andere wird inhaltlich nur angeschnitten.

Das Problem der Gewalt an den Pflegekräften in psychiatrischen Einrichtungen wurde unter anderem vom Spiegel („Zwang in der Psychiatrie-Das letzte Mittel“, Juni 2012), dem Magazin des Pflege-Selbsthilfeverband e.V. („Gewalt in der Pflege-unter dem Deckmantel der Verschwiegenheit“, September 2017) und der Badischen Zeitung („Je mehr Reglementierung, desto mehr Gewalt“, Januar 2018) in der jüngeren Vergangenheit publiziert.

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Quellen:

Gespräch mit Gisela Neunhöffer (ver.di), 19.01.2018

Gespräch mit einer namentlich nicht genannten Pflegekraft (Sabine M. (Name geändert)), 29.01.2018

Gespräch mit Susanne Rytina (Journalistin), 30.01.2018

Gespräch mit Siegfried Huhn (Pflege-Experte), 30.01.2018

Gespräch mit Lilian Kilian (Personalratsvorsitzende ZfP-Weissenhof), 31.01.2018

Online-Recherche auf  www.gesundheit-soziales.verdi.de/mein-arbeitsplatz/psychiatrie, www.spiegel.de,

www.pflege-prisma.de

 

Kommentar:

Gisela Neunhöffer (Gewerkschaft ver.di) zur Qualifikation der Pflegekräfte:

„Wir haben einfach zu wenig Zeit für die Ausbildung des Personals. Häufig werden die Unerfahrenen zu früh allein in den Berufsalltag geschickt und müssen sich dann in der Nachtschicht allein oder zu zweit um mehrere Patienten kümmern. Dazu kommt auch die Überbelegung vieler Häuser, die auch nicht einfach durch mehr Personal kompensiert werden kann.“

Lilian Kilian (Personalratsvorsitzende ZfP-Weissenhof) und Gisela Neunhöffer zur Gewalt in Psychiatrien:

„Es passiert überall. Wir stellen das bundesweit fest.“