2016: Top 9

Mangelernährung bei Krebs: Krankenhäuser könnten mehr tun

Über 50.000 Krebspatienten sterben jedes Jahr an Mangelernährung, dennoch verfügen in Deutschland nur vier Prozent aller Krankenhäuser über ein Ernährungsteam. In anderen Ländern, zum Beispiel in Großbritannien, gehört ein Screening auf Mangelernährung bei der Aufnahme ins Krankenhaus zur Pflichtuntersuchung. Deutschland hinkt in diesem Bereich hinterher. Die Bedeutsamkeit der Ernährung für den Erfolg der Behandlung ist vielen nicht bewusst. In den Medien wird immer wieder über Einzelfälle berichtet. Über Möglichkeiten, dieses Risiko zu senken, gibt es bisher jedoch keine Debatte.

Sachverhalt & Richtigkeit:

Jedes Jahr sterben in Deutschland über 228.000 Menschen an einer Tumorerkrankung. Tendenz steigend. 25 Prozent der Tumorpatienten sterben jedoch nicht an ihrer Krebserkrankung, sondern an den Folgen der körperlichen Auszehrung. Das sind über 50.000 Todesfälle pro Jahr. Durch mangelhafte Ernährung bei Krebs sterben demnach mehr Menschen als durch Verkehrsunfälle, Suizide und Drogen zusammen. Denn was nur wenige wissen: Mangelernährung ist ein erheblicher Risikofaktor für den Erfolg der Behandlung.
Die Ursachen sind eine unzureichende Energie- und Nährstoffaufnahme, Entzündungsprozesse und häufig auch tumorbedingte Stoffwechselstörungen. Als mangelernährt wird ein Mensch eingestuft, der ein Körpergröße-Gewichtsverhältnis (Body-Mass-Index, BMI) unter 18,5 Kilogramm pro Quadratmeter Körperoberfläche (kg/m²) hat.

Die Deutsche Studie zur Mangelernährung im Krankenhaus erhob den Ernährungszustand von 1886 aufeinanderfolgend aufgenommenen Patienten in 13 Krankenhäusern mittels Subjective Global Assessment (SGA) und durch anthropometrische Messungen. Es wurden die Risikofaktoren für eine Mangelernährung und der Einfluss des Ernährungszustandes auf die Krankenhausverweildauer untersucht. Bei 27,4 Prozent der Patienten wurde nach dem SGA eine Mangelernährung diagnostiziert. 43 Prozent der Patienten im Alter von 70 Jahren oder älter waren mangelernährt im Vergleich zu lediglich 7,8 Prozent im Alter unter 30 Jahren. Eine multivariate Analyse ergab drei unabhängige Risikofaktoren: höheres Alter, Anzahl der Medikamente, und bösartige Erkrankung. Mangelernährung wurde mit einer 43-prozentigen Verlängerung des Krankenhausaufenthaltes assoziiert.

Besonders betagte Patienten sind gefährdet, da ihr Speiseplan über die Jahre aufgrund von Schluckbeschwerden, verändertem Geschmacksempfinden und anderen Faktoren immer einseitiger wird. Die Situation verschärft sich, wenn eine schwerwiegende Krankheit, wie Krebs hinzukommt, da sich die Funktion des Immunsystems durch Mangelernährung so verschlechtert, dass dies die Behandlung deutlich beeinflusst. Es kommt zu Schluckbeschwerden, Pilzbefall im Mund- und Rachenbereich oder Bauchschmerzen. Gleichzeitig hemmen Botenstoffe, wie zum Beispiel Interleukine, den Appetit. Dies passiert durchaus schon lange vor der Krebsdiagnose.
Wenn eine Chemotherapie hinzukommt, sind Übelkeit und Erbrechen nur einige potenzielle Nebeneffekte. Dem Körper fehlen Kalorien und Eiweiße, die in den Muskeln gespeichert werden. Der Verlust der Muskelmasse löst ein allgemeines Schwächegefühl und ein erhöhtes Sturzrisiko aus. Vermehrte Wassereinlagerungen, ausgelöst durch den Eiweißmangel, können den Anschein erwecken, dass das Gewicht des Patienten steigen würde. Ein über mehrere Tage geführtes Ernährungsprotokoll des Patienten kann helfen, einen sinnvollen Ernährungsplan zu erstellen.

Doch im Klinikalltag sieht die Situation oft ganz anders aus. Wenn Patienten in Deutschland wegen einer Krebserkrankung ins Krankenhaus kommen, wird man auf den Tumor hin behandelt. Ärzte möchten die Fallpauschale möglichst ausreizen und keine Nebendiagnosen stellen, da diese nicht vergütet werden. Die Codierung Mangelernährung gibt es gar nicht mehr und somit auch kein Geld von der Krankenkasse. Die Zusammenarbeit von Klinik und Ernährungsberatung ist ein vernachlässigter Punkt. In Deutschland verfügen nur vier Prozent aller Krankenhäuser über ein Ernährungsteam. In anderen Ländern, beispielsweise in Großbritannien, ist das Screening auf Mangelernährung eine Pflichtuntersuchung bei der Krankenhausaufnahme. Dadurch kann der Krankheitsverlauf des Patienten verbessert und Kosten eingespart werden. Eine befragte Patientin gab beispielsweise zu Protokoll, das sie über Jahre keine Nahrung bei sich halten konnte und nicht mehr als 32 Kg auf der Waage verzeichnen konnte. Mittlerweile ernährt sie sich seit acht Jahren selbst künstlich und führt ein nahezu uneingeschränktes Leben. Eine der Ursachen für diesen Skandal ist, dass die Kommunikation über das Thema ausbleibt. Besonders deutlich formuliert es Prof. Dr. Markus Masin, Beauftragter für klinische Ernährung, Leiter der Ernährungsmedizin am Zentrum für Krebsmedizin und Vorstand der Deutschen Stiftung gegen Mangelernährung: „Ein nicht aufgeklärter Patient kann auch nichts entscheiden.“ Das Thema kostet Zeit. Im Moment gibt es im deutschen Gesundheitssystem jedoch nur eingeschränkte Möglichkeiten dies zu finanzieren.

In Deutschland entstehen durch Mangelernährung jährlich Kosten in Höhe von neun Milliarden Euro. Darauf verweist die Deutsche Gesellschaft für Ernährungsmedizin (DGEM) anlässlich des Kongresses „Ernährung 2010“ Mitte Juni in Leipzig. Und das ohne Betrachtung indirekter volkswirtschaftlicher und privater Kosten. Dabei tragen die Krankenhäuser mit rund fünf Milliarden Euro den größten Anteil dieser Kosten. Aber auch die Pflege mit 2,6 oder der ambulante Bereich mit 1,3 Milliarden Euro haben mit diesem Thema zu kämpfen. Die Mangelernährung führt zu längeren Krankenhausaufenthalten und Genesungsverläufen sowie zu höheren Kosten. Die Prognose für 2020 sagt einen Anstieg der Kosten, um fast 25 Prozent, auf rund elf Milliarden Euro voraus. Eine rechtzeitige und richtige Ernährungstherapie bietet daher ein hohes Einsparpotenzial für das Gesundheitswesen.

Zu berücksichtigen gilt jedoch, dass nur jeder zweite Tumor heilbar ist und Patienten neben der Appetitlosigkeit oft den Wunsch hegen, nicht mehr ernährt zu werden. Diesen Wunsch akzeptieren die zu behandelnden Ärzte. Sie unterschreiben den hippokratischen Eid, der besagt: „[…] ich werde ärztliche Verordnungen treffen zum Nutzen der Kranken nach meiner Fähigkeit und meinem Urteil, hüten aber werde ich mich davor, sie zum Schaden und in unrechter Weise anzuwenden[…]“. Zu dem Stichpunkt „Sterbehilfe“ antwortet Herr Dr. med. J. Arends, Leiter Gastroenterologie und Ernährung an der KTB Klink für Tumorbiologie: „Man kann sich einigen“. Solche Entscheidungen sind in Deutschland straffrei, wenn sie in Übereinstimmung mit dem erklärten oder mutmaßlichen Willen des Patienten stattfinden. Aufgrund dessen stellt sich die Frage: Wieso ist die Sterbehilfe bei Krebserkrankungen gestattet, in anderen Fällen jedoch gesetzlich untersagt?

Relevanz:

Die hohe Betroffenheit von jährlich über 50.000 Tumorpatienten macht das Thema relevant. Gleichzeitig hat dieser Zustand maßgebliche wirtschaftliche Folgen. In Deutschland entstehen dadurch jährlich Kosten in Höhe von neun Milliarden Euro. Es besteht dringender Handlungsbedarf, denn bereits bis zum Jahr 2020 sollen die Kosten auf rund elf Milliarden Euro ansteigen.
Deutschland hinkt hinterher – in anderen Ländern, wie Großbritannien, gehört das Screening auf Mangelernährung zur Pflichtuntersuchung. Das Thema steht in Verbindung mit dem aktuellen Disput um die Sterbehilfe.

Vernachlässigung:

Am 23.09.1998, um 06:15 berichtet der dpa-Basisdienst, Hamburg, dass bis zu 25 % der Krebspatienten an den Folgen einer Mangelernährung sterben würden.
Die Süddeutsche Zeitung berichtete am Donnerstag, dem 05.01.2006 auf der Seite 9 mit dem Titel: „Aus für die Bananenpropaganda“ über die richtige Ernährung für Krebspatienten. In den letzten drei Absätzen wird das Thema der Mangelernährung bei Krebspatienten aufgegriffen: „Die Ärzte fokussieren sich völlig auf den Krebs und vergessen, dass der Patient Reserven braucht, wenn der Krebs behandelt wird“.
Am 27.02.2008 auf der Seite N2 berichtete die FAZ und hält fest: „Es sei daher notwendig, den Ernährungszustand von Tumorpatienten systematisch zu erfassen“. Sie publiziert auch am 22.02.2006 auf der Seite N2, dass Mangelernährung eine der größten, aber zugleich auch eine der am meisten unterschätzten Herausforderungen sei.
Die Berliner Zeitung hält am 07.06.2006 in der Ausgabe 103 auf der Seite 15 fest, dass selbst die Ärzte in den Kliniken noch viel zu wenig auf die Ernährung der Patienten achten würden.
Die Leipziger Volkszeitung veröffentlichte am 15.01.2008 auf der Seite 17 „Falsch ernährt im Krankenhaus“, und hält fest, dass das Thema in der öffentlichen Debatte und auch unter Ärzten selber kaum eine Rolle spielen würde.
Am 01.08.2007 berichtete die Welt auf der Seite 27 in dem Artikel „Jeder zweite Krebspatient falsch ernährt“, über die Notwendigkeit individueller Ernährungstherapien.

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Quellen:
E-Mail-Verkehr und Telefonat mit Dr. med. Jann Arends, Leiter Gastroenterologie und Ernährung an der KTB Klinik für Tumorbiologie, 27.07.2015

E-Mail-Verkehr und Telefonat mit Dr. Stefanie Seltmann, Leiterin Presse- und Öffentlichkeitsarbeit am Deutschen Krebsforschungszentrum, 28.07.2015

E-Mail-Verkehr mit Dr. Susanne Weg-Remers, Leitung des Krebsinformationsdiensts KID

Deutsche Studie zur Mangelernährung im Krankenhaus, Matthias Pirlich, Tatjana Schütz und 18 weitere Autoren, Clinical Nutrition Volume 25, Issue 4, August 2006, Pages 563-572

Ärzte Zeitung, Ernährung: Großes Thema bei Krebs, 10.03.2015, bezieht sich auf Notwendigkeit der Erfassung des Ernährungsstatus von Krebspatienten.

Krebs-Nachrichten, Nina Meckel, Therapiechancen für Krebs sinken bei Mangelernährung, 19.05.2015 (letzte Änderung: 08.06.2015, 11:15), http://www.krebs-nachrichten.de/praxis-details/therapiechancen-fuer-krebs-sinken-bei-mangelernaehrung.html

http://pressefreiheit-in-deutschland.de/krebs-skandal-jeder-4-patient-stirbt-an-mangel-ernaehrung-7362907/

Kommentar:

„Den Menschen um die Zielscheibe Tumor müssen wir unterstützen. Dafür fehlt es jedoch an Geld, Expertise, Personal und vor allem der Forschung“.
(Dr. med. J. Arends, Leiter Gastroenterologie und Ernährung an der KTB Klinik für Tumorbiologie)

„Selbstbestimmung am Lebensende schließt grundsätzlich auch die Möglichkeit ein, sich im Falle einer subjektiv unerträglichen Situation für den Tod zu entscheiden“.
(Dr. Susanne Weg-Remers, Leitung Krebsinformationsdienst KID)