2016: Top 8

„Betonspritzen“ in der Psychiatrie

Patienten und Patientinnen in der Psychiatrie werden gegen ihren Willen mit der sogenannten Betonspritze ruhiggestellt. Neben der unklaren rechtlichen Situation können auch die gesundheitlichen Neben- und Spätwirkungen negativ sein. Seit 1990 nehmen die Einweisungen in psychiatrische Einrichtungen von Jahr zu Jahr beständig zu. Mit dem Ziel, durch Therapie wieder ein normales Leben führen zu können oder ganz geheilt zu werden, begeben sich viele Menschen freiwillig oder durch richterliche Beschlüsse in psychiatrische Hände. Die Zahl aller Zwangseinweisungen in die Psychiatrie beträgt in Deutschland mittlerweile ca. 200.000 pro Jahr. Statt Therapie erfolgt aber dann häufig nur Medikamentation. Berichtet wird nur über die spektakulären Einzelfälle, nicht aber über das strukturelle Problem.

Sachverhalt & Richtigkeit:
Gute Pflege, Rehabilitation und Therapie in Psychiatrien, aber auch Alten- und Pflegeheimen stehen an erster Stelle. Seit Jahren aber ist die Medikation mit Psychopharmaka sehr umstritten. Vor allem aufgrund starker Nebenwirkungen. Insbesondere, wenn diese Medikamente unter Zwang, also gegen den Willen des Patienten oder sogar ohne dessen Wissen, verabreicht werden. Umstritten ist in solchen Fällen in erster Linie die Notwendigkeit in Hinblick auf die zum Teil schwerwiegenden Spätfolgen der Zwangsmedikation z.B. mit der sogenannten „Betonspritze“. Diese stellt Patienten für mehrere Stunden vollkommen ruhig und beinhaltet den Wirkstoff Haloperidol. Vorwegzunehmen ist, dass bei der Medikation mit Haloperidol auf „freiwilliger Basis“ die Patienten vorher über Nebenwirkungen und Spätfolgen aufgeklärt werden müssen. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie das Medikament in Tablettenform verschrieben oder in ca. 4-wöchigen Abständen vom behandelnden Arzt gespritzt bekommen haben. Grundsätzlich wird dieses Medikament im Falle von akuten und chronischen Psychosen, die mit Wahnvorstellungen, Halluzinationen, Denkstörungen und Ich-Störungen einhergehen, eingesetzt. Weiterhin wird es bei Schizophrenie und Manien (krankhaft gesteigerte Stimmungen) sowohl im akuten und chronischen Stadium, als auch zur Verhinderung eines Rückfalls gegeben. Daher ist die Zwangsmedikation mit Haloperidol in Form der „Betonspritze“ grundsätzlich von der Medikation zur Behandlung oben genannter Krankheiten abzugrenzen. Zum einen, da keine Aufklärung über Nebenwirkungen und Spätfolgen erfolgt und zum anderen da der Einsatz oft lediglich dem totalen Ruhigstellen der Patienten dient.
Menschen, die eine solche Betonspritze verabreicht bekamen, beschreiben den Zustand in den sie versetzt worden sind, alle ähnlich. In Internetforen gaben die Meisten an, dass sie sich fühlten wie: „(…) ein gehirntoter, antriebsloser, völlig desorientierter Zombie.“ Auch die Spätfolgen und Nebenwirkungen werden von den Betroffenen ähnlich beschrieben. Darunter fallen: Müdigkeit, Zungenkrämpfe, Rachenkrämpfe, Kopf-Bewegungskrämpfe, Hals-Bewegungskrämpfe, Schulter-Bewegungskrämpfe, Schiefhals, Blickkrämpfe, Bewegungsarmut, Muskelsteifheit, Zittrigkeit, Bewegungsunruhe und Sitzunruhe. Die aufgezählten Spätfolgen können laut Mediziner Michael Schulz schon nach nur einmaliger Anwendung auftreten: „Haloperidol macht das Gehirn schlichtweg kaputt!“
Sophie Höpkens war Praktikantin in einer Psychiatrie. Sie bekam die Anwendung der „Betonspritze“ hautnah mit. In ihrem 4-wöchigen Praktikum kam es einmal auf ihrer Station zu dieser Situation. Ein Patient wurde laut, äußerte sich anzüglich gegenüber weiblichen Pflegerinnen, aber handgreiflich wurde er nicht. Trotzdem wurde er fixiert, seine Handgelenke und Knöchel festgebunden und dann eine Betonspritze gesetzt. Daraufhin beruhigte er sich extrem schnell. Ihrer Einschätzung nach war das Setzen der Betonspritze nicht nötig gewesen.

Rückblickend auf ihr Praktikum sieht Sophie Höpkens, dass das Hauptaugenmerk auf die Medikation der Patienten gelegt wird und weniger auf die Therapie in Form von Gesprächen mit Psychiatern. Sie bemerkt einen starken Unterschied bei Patienten, wenn sie unter starkem Einfluss von Medikamenten stehen: „Am krassesten fand ich den Unterschied bei diesem Patienten, der grundsätzlich friedlich und freundlich war, aber als er seine Tabletten bekam, hat er ziemlich undeutlich gesprochen, manchmal keine ganzen Sätze rausbekommen und sehr viel gesabbert, weil er durch die Medikamente so lahmgelegt war, dass er nicht mal mehr das kontrollieren konnte. Als er dann die Tabletten nicht mehr nahm (…) war er viel agiler und hat sich deutlich besser ausgedrückt.“ Ihrer persönlichen Einschätzung zu Folge ist eines der Hauptprobleme der Personalmangel in Psychiatrien. Das Pflegepersonal ist oftmals überfordert und vereinfacht sich ihren Arbeitsalltag, indem die Patienten durch Medikamente ruhig gestellt werden.

Belegt werden kann dieses Problem mit einer Statistik, die besagt, dass 66 Prozent der psychiatrischen Fachkrankenhäuser im Jahr 2011 angaben, Probleme zu haben ärztliches Personal zu finden. Zudem gaben 28,1 Prozent der psychiatrischen Fachkrankenhäuser an, dass sie außerdem Probleme haben Pflegepersonal zu finden. Ebenfalls In Alten- und Pflegeheimen ist die Problematik des Personalmangels bekannt. Sie wurde jedoch durch die Medien schon stärker publik gemacht.

Michael Schulz, der selbst viele Jahre in der Psychiatrie gearbeitet hat, weiß aus eigener Erfahrung, wie Haloperidol wirkt und wie es Leben verändern und beeinträchtigen kann. In den 1960er Jahren war Haloperidol die Standard- Medikation, um Patienten aus einer akuten Psychose zu holen. Heute wird Haloperidol von Ärzten auf Bedarf verschrieben, sodass sogar Pflegehelfer nach eigenem Ermessen den Patienten dieses starke Medikament verabreichen können. „Das Pflegepersonal in Psychiatrien ist oftmals ziemlich arbeitsscheu“, gibt er zu bedenken. Es sei die einfachste, aber zugleich grausamste Methode, Patienten ruhig zu stellen. „Man fühlt sich wie gefangen im eigenen Körper, du kannst dich einfach nicht mehr bewegen, du kannst nicht mehr sprechen, nicht mehr denken.“ Oftmals bekommen Patienten direkt nach ihrer Einweisung Tropfen mit dem Haloperidol-Wirkstoff in ihr Getränk gemischt, ohne dass sie es wissen. „Ich habe wirklich geglaubt, dass den Menschen in der Psychiatrie geholfen wird, aber Psychiatrie hat fiese Seiten, die man am Anfang nicht erkennt.“
Betrachtet man nur den Fall von Ilona Haslbauer. Die 57-Jährige lebt in der geschlossenen Psychiatrie. Nach einer Auseinandersetzung mit einem Pfleger wird sie auf einem Bett fixiert – 25 Stunden lang. Sie isst nichts, nässt sich mehrfach ein und trägt Verletzungen von den Fixierungen an den Handgelenken davon.
Michael Schulz beschreibt die rechtlichen Grundlagen der Patienten in Psychiatrien als nahezu ausweglos. Es sind zum großen Teil menschenunwürdige Zustände, die Patienten sind hilflos. „Wirst du einmal für verrückt erklärt, glaubt dir niemand mehr. Es ist viel zu einfach die Patienten als völlig unglaubwürdig erscheinen zu lassen.“ Es zeichnet sich ab, dass Menschen mit einer möglicherweise zu leichtfertig gestellten medizinischen Diagnose auf leichtestem Wege in Psychiatrien entrechtet und mit Spritzen ruhig gestellt werden können.

Die Rechtslage in Bezug auf die Zwangsmedikation hat sich im Laufe der Jahre einige Male geändert. Voraussetzung für die Durchführung einer Zwangsmaßnahme ist nach dem neuen Gesetz zunächst, dass der Patient „die Notwendigkeit der jeweiligen ärztlichen Maßnahme nicht erkennen oder nicht nach dieser Einsicht handeln“ kann (§ 1906, Abs. 3 Nr. 1), mithin einwilligungsunfähig ist. Die bloße Ablehnung einer vom behandelnden Arzt für sinnvoll erachteten Behandlung durch einen (vielleicht unvernünftig, aber frei handelnden) einwilligungsfähigen Patienten rechtfertigt selbstverständlich keine Zwangsbehandlung. Neben der Einwilligungsunfähigkeit muss die ärztliche Zwangsmaßnahme zum Wohl des Betreuten erforderlich sein, um „einen drohenden erheblichen gesundheitlichen Schaden abzuwenden“ (§ 1906, Abs. 3, Nr. 3). Weitere Voraussetzung ist, dass dieser Schaden nicht durch eine „andere, dem Betreuten zumutbare Maßnahme abgewendet werden“ kann (§ 1906, Abs. 3, Nr. 4). Schließlich muss „der zu erwartende Nutzen die zu erwartenden Beeinträchtigungen deutlich“ überwiegen (§ 1906, Abs. 3, Nr. 5), und es muss vor der Einleitung der Zwangsmaßnahme versucht worden sein, „den Betreuten von der Notwendigkeit der ärztlichen Maßnahme zu überzeugen“. In der Praxis müssten daher aggressive oder massiv selbstgefährdete Patienten bis zur wirksamen richterlichen Entscheidung fixiert werden. Dies ist ohne begleitende Medikation schwierig und in vielen Fällen unvertretbar, da die Fixierung ohne Medikation zum Teil eine erhebliche Gefahr für den Patienten und die Umwelt darstellt. In diesem Fall kann also entgegen der Gesetzeskonzeption eine sofortige medikamentöse Behandlung unumgänglich sein.
Diese Gesetze werfen jedoch so viele Grauzonen auf, dass es, solange Zwang in der Psychiatrie „erlaubt“ ist, kaum zu kontrollieren ist, ob dieser nun „notwendig“ war oder nicht. Die Notwendigkeit bleibt stets eine subjektive Entscheidung.

Relevanz:

Betroffen sind nicht nur die vielen Millionen psychisch erkrankten Menschen in Psychiatrien, sondern auch Bewohner von Alten- und Pflegeheimen. Die falsche Medikation, Zwangsmedikation und der Mangel an Psychiatern und Pflegepersonal stellt eines der Hauptprobleme dar. Erschwerend kommen die Entmündigung der Patienten, sowie die Infragestellung ihrer Glaubwürdigkeit durch die jeweiligen Diagnosen hinzu, sodass Missstände in psychiatrischen Einrichtungen nur sehr schwer aufzudecken sind.

Vernachlässigung:

Das Problem der überhandnehmenden Medikation und auch Zwangsmedikation anstelle von Therapien in Psychiatrien wurde vereinzelt in den Medien thematisiert, vor allem rund um die Spätfolgen die Patienten mit sich tragen müssen. Hierzu sind Reportagen, beispielsweise in der Sueddeutschen Zeitung („Training gegen den Wahn“, 18.06.2014) und im Focus („Nicht ganz bei Trost“, 20.08.2012) die sich auch im speziellen mit der Rechtslage beschäftigen, veröffentlicht worden. Spezielle „Einzelfälle“ dringen immer wieder an die Öffentlichkeit, wie das Beispiel Ilona Haslbauer (Focus Online) oder Gustl Mollath (SZ, Spiegel Online etc.). Eine Grundsatzdiskussion lösen aber diese an die Öffentlichkeit gedrungenen Härtefälle nicht aus.

Auch andere Aspekte der Zwangsmedikation, z.B. deren umstrittene Rechtslage, gerade hinsichtlich der Machtlosigkeit der Angehörigen und Patienten, finden sich nur sehr vereinzelt in einigen Presseartikeln. In Sachen „Betonspritze“ ist in den kommerziellen Medien nichts zu finden. Man stößt jedoch auf Beiträge von ehemaligen Psychiatrie-Patienten in diversen Internetforen. Zum Beispiel auf der Homepage: „klinikbewertungen.de“. In Selbsthilfeforen schildern Einige sehr genau, wie es ihnen nach der Zwangsmedikation mit Haloperidol ergangen ist (vgl.: https://www.land-der-traeume.de/forum.php?t=20078).

Zur falschen Medikation in Alten- und Pflegeheimen berichtete der NDR im Rahmen der TV-Sendung „Panorama3“, in dieser kurzen Dokumentation werden Alzheimerpatienten mit einem Mittel namens Risperidon (in Tablettenform) ruhiggestellt; Risperidon wirkt fast identisch wie Haloperidol, beide setzen an den gleichen Rezeptoren an.
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Quellen:

Persönlicher Bericht von Sophie Höpken (ehem. Praktikantin in Psychiatrie);

Telefonat mit Michael Schulz, langjähriger Mediziner in Psychiatrie;

Telefonat mit Marc Rösgen, Rechtsanwalt;

Onlinerecherchen auf www.ardmediathek.de/tv, www. pflege-shv.de, diverse Statistiken aus www.statista.com, www.grundrechtepartei.de, www.skicontrol.de, www.spiegel.de; www.sueddeutsche.de, www.land-der-traeume.de, www.praxisvita.de, www.psychotherapiepraxis.at, www.klinikbewertungen.de

Grafiken aus: www.aerzteblatt.de; Dtsch Arztebl 2013; 110(9): A 377−9, dpa – Basisdienst, http://www.ardmediathek.de/tv/Panorama-3/, sphinx.zdf.de

Literatur:
K. Aktories, U. Förstermann, F. B. Hofmann, K. Starke: Allgemeine und spezielle Pharmakologie und Toxikologie, 2004.
H. Lüllmann, K. Mohr, M. Wehling: Pharmakologie und Toxikologie – Arzneimittelentwicklung verstehen – Medikamente gezielt einsetzen, 2006.

Kommentar:

„Es gibt heutzutage absolut keine Notwendigkeit mehr Haloperidol anzuwenden.“
(Michael Schulz, Mediziner)

„Also aus meiner Sicht wird auf der geschlossenen Station sehr wenig bis gar nicht therapiert, die Medikation hatte dort auf jeden Fall mehr Wert.“.
(Sophie Höpken, Psychiatrie Praktikantin)