2016: Top 7

Arbeitsbedingungen zu selten ein Thema

Die Wirtschaftsteile deutscher Zeitungen – langweilige Satzschachteln für Experten oder verbraucherorientierte Aufklärung? Während Unternehmensporträts, die Fieberkurven der weltweiten Börsenplätze und die bunte Konsumwelt breiten Niederschlag im Wirtschaftsjournalismus zu finden scheinen, sind Berichte aus der Arbeitswelt deutlich seltener. Außerhalb der großen Tarifauseinandersetzungen werden die Arbeitsbedingungen journalistisch kaum thematisiert. Rechercheure der INA haben diese These mit einer Inhaltsanalyse geprüft.

Sachverhalt & Richtigkeit:

Bereits 1969 haben sich Peter Glotz und Wolfgang R. Langenbucher in dem Werk „Der mißachtete Leser“ kritisch mit der deutschen Presse, unter anderem dem Wirtschaftsjournalismus, auseinandergesetzt. Vor dem Hintergrund der Recherche können sinngemäß einige Ausführungen festgehalten werden. Die Autoren lasten den Wirtschaftsteilen die bloße Verständlichkeit für Fachleute und zugeschnittene Inhalte für „Börsianer“ und Aktienbesitzer an. Verbraucherfragen und das Informationsbedürfnis der breiten Masse blieben unberücksichtigt. Stattdessen würde in „Wirtschaftschinesisch“ produktionsorientiert berichtet (vgl. Glotz, Langenbucher 1969: 77ff.)

Den Gründen für die Einreichung, als auch den Ausführungen zur Kritik am Wirtschaftsjournalismus des gerade genannten Buches widerspricht im Jahr 2015 einer der Autoren selbst. Auf eine E-Mail-Anfrage bringt Herr Langenbucher zum Ausdruck, dass er nicht mehr an eine Unterrepräsentation von „Arbeitnehmerthemen“ in den Wirtschaftsteilen deutscher Tageszeitungen glaube. Der Kommunikationswissenschaftler äußert, dass „Prestige Paper“ heutzutage anders aussähen. Der Umfang sei größer, die Themenpalette breiter, alle journalistischen Formen seien vertreten, das Layout leserfreundlich, die Illustrationen gut und die Redaktionen größer. Konsumenteninteressen, Wertpapierinhaber, Streikende und Lohnprobleme würden in deutschen Wirtschaftsressorts zudem nicht länger ignoriert.

Auf E-Mail-Anfragen bezüglich einer vermuteten Unterrepräsentation von „Arbeitnehmerthemen“ in den Wirtschaftsteilen reagierten mit Ausnahme der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (FAZ) keine der kontaktierten deutschen Tageszeitungen; darunter das Handelsblatt, die Süddeutsche Zeitung und Spiegel Online. Der genaue Wortlaut der verfassten Mails ist dem Rechercheprotokoll zu entnehmen. Carsten Knop, der verantwortliche Redakteur für Wirtschaftsberichterstattung und Unternehmen der FAZ bestätigt in seiner Antwort vom Dezember 2015 die Annahmen Langenbuchers. Knop äußert, dass Arbeitnehmer und ihre Interessen ständig in der Wirtschaftsberichterstattung vorkämen. Der Journalist glaubt außerdem, dass sich der Wirtschaftsteil in den vergangen Jahren stark von institutionellen Betrachtungen und der Reportage von Zahlenwerken wegbewegt habe. Eine Unterrepräsentation von „Arbeitnehmerthemen“ sei ihm folglich nicht bewusst. Festzuhalten sei an dieser Stelle, dass die Zustimmung der Vernachlässigungsthese von einem verantwortlichen Redakteur einer der größten deutschen überregionalen Zeitungen nicht zu erwarten ist.

Zu gegenläufigen Erkenntnissen kommen Arlt und Storz im Jahr 2010. Diese halten zusammenfassend im Arbeitsheft 63 der Otto-Brenner-Stiftung (Stiftung der Gewerkschaft IG Metall) „Wirtschaftsjournalismus in der Krise“ fest, dass die gesellschaftliche und volkswirtschaftliche Perspektive des tagesaktuell arbeitenden Wirtschaftsjournalismus in den vergangenen Jahren in den Hintergrund gerückt sei und die Perspektive der Anleger eher thematisiert würde. Laut den Autoren bestehe keine Horizontöffnung für gesamtwirtschaftliche oder gesellschaftliche Problematisierungen (vgl. Arlt, Storz 2010: 265).

Wie bereits im Abstract erwähnt, soll sich der eingereichten Fragestellung empirisch, inhaltsanalytisch angenähert werden. Von besonderer Bedeutung ist dabei die Festlegung einer Gewerkschaftsterminologie, welche sich, nach einigen Überlegungen zur bestmöglichen Repräsentativität von arbeitnehmerthematisierenden Inhalten, aus den Begriffen Gewerkschaft, Lohn, Gehalt, Überstunden, Urlaub, Beschäftigte, Fachkräfte, Streik, Arbeitsbedingungen und Pausenzeiten zusammensetzt. Vor dem Hintergrund dieser codierten Begriffe kann die Häufigkeit des Auftretens in den Zeitungen kontrolliert und Aussagen über eine Verifizierung bzw. Falsifizierung der Hypothese getroffen werden. Darauf folgend konnte eine erste, oberflächliche Recherche mit Hilfe der definierten Terminologie und den Datenbanken FACTIVA, WISO und dem Online-Auftritt der FAZ durchgeführt werden. Lediglich drei der untersuchten 31 Artikel enthielten die angesprochenen Begriffe. Somit entspricht das Aufkommen der Begrifflichkeiten in den Wirtschaftsteilen deutscher Tageszeitungen nur 9,7%. Die genauen Auswertungen der einzelnen Datenbanken lassen sich dem Rechercheprotokoll entnehmen.

Angesichts dieser ersten, nicht codierten Erkenntnisse konnte anschließend eine standardisiert quantitative Inhaltsanalyse nach einem theoriegeleiteten, deduktiven Vorgehen realisiert werden. Vorbereitende Feststellungen spielen dabei eine wichtige Rolle: Aus der eingereichten Frage nach dem inhaltlichen Aufkommen von „Arbeitnehmerthemen“ in den Wirtschaftsteilen deutscher Tageszeitungen kann somit die im Abstract bereits aufgeführte Annahme abgeleitet werden. Die Grundgesamtheit der Analyse stellen dabei große deutsche Tageszeitungen mit überregionaler Auflage dar. Aufgrund des angestrebten Vergleiches der Print- und Onlinewirtschaftsteile werden neben Artikeln der Printausgaben auch Online-Artikel der FAZ, SZ und Taz auf Gewerkschaftsterminologie untersucht und komplementieren damit die Stichprobe.

Das im Rechercheprotokoll dargestellte Codierbuch dient als Grundlage der Inhaltsanalyse. Die Variablen Coder, ID, Medium, Publikation, Datum und Terminologie sind dort definiert und mit einem Schlüssel versehen, um eine Quantifizierbarkeit möglich zu machen. Auch hier kann zur besseren Visualisierung auf das Rechercheprotokoll samt ausgearbeitetem Codierbuch verwiesen werden.

Nachstehend soll das inhaltsanalytische Vorgehen erläutert werden. Untersucht wurden insgesamt 100 Artikel, explizit und gewissenhaft eruiert auf das Vorkommen der, in der festgelegten Terminologie verankerten Begriffe. Nach jeder einzelnen Sichtung wurden die Ergebnisse in die dafür vorgesehene Excel-Tabelle eingetragen. Diese findet sich ebenfalls im Rechercheprotokoll wieder. Bei einer Mehrfachnennung von gewerkschaftsterminologischen Worten konnten die genauen Begrifflichkeiten in der dafür vorgesehenen Spalte vermerkt werden.

Vernachlässigung:

Nun sollen die wichtigsten Erkenntnisse der Inhaltsanalyse herausgestellt, bewertet und die Recherche abschließend kritisch reflektiert werden.

Aufteilen lässt sich die Gesamtheit aller untersuchten journalistischen Berichte in 55 Print- und 45 Online-Artikel der FAZ, SZ und Taz. Innerhalb der physisch Vorliegenden wird sechs Mal die vorher festgelegte Gewerkschaftsterminologie verwendet. Das entspricht einer Quote von lediglich 10,9%. Folgerichtig werden „Arbeitnehmerthemen“ in knapp 90% der Artikel nicht quantifizierbar angesprochen. Das Wort „Lohn“ wird mit einer Quote von 50% innerhalb der mit Terminologie versehenen Artikel am meisten verwendet.

Im Gegensatz zu den Printausgaben der Taz, SZ und FAZ bietet jede der drei Publikationen explizite Online-Inhalte an, die die Arbeitswelt thematisieren. Diese finden sich auf der Seite www.taz.de unter dem Reiter „Öko“ in der eigens konzipierten Rubrik „Arbeit“, auf www.sueddeutsche.de unter „Chancen“, der Rubrik „Karriere“ und besonders herausstellend auf www.faz.net unter dem Reiter „Beruf & Chance“ und den Rubriken „Arbeitswelt“, „Recht und Gehalt“ und „Campus“, welche sich studentischen Inhalten widmet. Interessant im Zuge der Fragestellung ist jedoch, inwieweit die Ausdrücke der Arbeitnehmerwelt in den allgemeinen Wirtschaftsteilen und damit auch in den allgemeinen Online-Wirtschaftsrubriken präsentiert werden.

Dieser Frage nachgehend, lässt sich in neun Fällen die Verwendung von Gewerkschaftsterminologie feststellen. Dies entspricht einem 20 prozentigem Aufkommen der vorher festgelegten, quantifizierbaren Worte innerhalb der allgemeinen Online-Wirtschaftsteile der untersuchten Tageszeitungen. Anzumerken ist, dass sich bei Artikel 57 der Gebrauch der Terminologie auf das Berufsbild des Profi-Sportlers beschränkt und bei 77 die Nennung der Begrifflichkeiten lediglich im Zuge der Leitzinserhöhung fällt und somit jedwede Berührungspunkte mit einer Arbeitnehmerthematik fehlen. Bei ID 89 erfolgt die Nennung der Gewerkschaftsterminologie lediglich in Verbindung mit der Führungsspitze des thematisierten Unternehmens. Würden qualitative Standards ebenfalls zu Rate gezogen, fielen ID 57, 77 und 89 aus den obig genannten Gründen aus dem Raster und das Aufkommen läge lediglich bei 13,3% (vgl. Variablen im Codierbuch).

Für die Gesamtheit der Stichprobe kann somit festgehalten werden, dass innerhalb 15 der 100 untersuchten Artikel Gewerkschaftsterminologie von den Autoren verwendet wird. Das entspricht einem 15 prozentigen Aufkommen der quantitativ messbaren Terminologie, welche die sogenannten „Arbeitnehmerthemen“ als prüfbare Indizien für eine Thematisierung dieser vertritt. Schlussfolgernd drehen sich inhaltlich 85% der Artikel nicht um die, im Unternehmen Beschäftigten. Damit kann die eingangs aufgestellte Hypothese verifiziert und von einer inhaltlichen Vernachlässigung der Arbeitswelt in den Wirtschaftsteilen deutschen Tageszeitungen gesprochen werden.

Die Analyse abschließend seien einige reflektierte Vorschläge für das qualitative und quantitative Ausweiten der durchgeführten Inhaltsanalyse anzubringen. Um ein tiefgründiges, stark aussagekräftiges Ergebnis zu erlangen, müssten über mehrere Wochen, wenn nicht sogar Monate inhaltliche Untersuchungen von Artikeln angestellt werden. Die analysierte Palette an Tageszeitungen müsste, um Aussagen über die eindeutige Generalisierbarkeit der Ergebnisse treffen zu können, sowohl im Online- als auch Print-Bereich vergrößert werden. Zu guter Letzt sollte über die Erweiterung der Gewerkschaftsterminologie nachgedacht und neben den standardisierten auch qualitative Untersuchungskriterien angewandt werden um validere Erkenntnisse garantieren zu können.

Mit Rückblick auf die zu Beginn angestellten Vermutungen zu möglichen Gründen der Vernachlässigung kann die Unbewusstheit der Zeitungskonzerne nach dem, im Rechercheprotokoll angeführten E-Mail-Interview mit Carsten Knop als Argument für fehlende Berichterstattung ausgeschlossen werden. Die Konfrontation mit der Thematik schien den FAZ-Redakteur, welcher an dieser Stelle auch symbolisch für Journalisten vergleichbarer Tageszeitungen steht, nicht zu überraschen. Des Weiteren kann Abstand genommen werden von der Annahme „Arbeitnehmerthemen“ kämen in den Wirtschaftsteilen, aufgrund lediglich stark wirtschaftsaffiner und damit produktionsinteressierter Leser, zu kurz. Herr Knop äußert dazu:

Der Wirtschaftsteil der FAZ richtet sich wie die gesamte Zeitung an ein informationshungriges Publikum, gewiss mit einer überdurchschnittlichen Bildung, aber eben nicht ausschließlich an Aktionäre oder Vorstände. Wir sind eine allgemeine Tageszeitung, wie unser Name schon sagt, deshalb müssen auch alle unsere Texte allgemeinverständlich sein.

Es ist davon auszugehen, dass weitere Tageszeitungen Deutschlands dem zustimmen würden. Die Einschätzung einer fehlenden thematischen Relevanz für das rezipierende Publikum scheint demnach der einzig nicht widerlegbare Grund zu sein. Wiederum kann der, für den Wirtschaftsteil verantwortliche FAZ-Journalist angeführt werden. Dieser legt dar, dass das Interesse der breiten Leserschaft lediglich punktuell auf die großen Entwicklungen, Skandale und Ereignisse gerichtet sei. Dies bestätigt die Vermutung der fehlenden thematischen Relevanz von „Arbeitnehmerthemen“ mangels Interesse des Lesers, so dass es in den Print- und Online-Wirtschaftsressorts deutscher Tageszeitungen zur Vernachlässigung kommt.

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Quellen:

Arlt, Hans-Jürgen/Wolfgang Storz (2010). Wirtschaftsjournalismus in der Krise: Zum massenmedialen Umgang mit Finanzmarktpolitik. Frankfurt/Main: Otto-Brenner-Stiftung.

FACTIVA (2015). https://global-1factiva-1com-1factiva.emedien3.sub.uni-hamburg.de/sb/default.aspx?lnep=hp

Frankfurter Allgemeine Zeitung (2015). „Die Redaktion.“ http://www.faz.net/redaktion/

Frankfurter Allgemeine Zeitung (2015). „Wirtschaft.“ http://www.faz.net/aktuell/wirtschaft/ (17.12.2015)

Glotz, Peter/Wolfgang R. Langenbucher (1969): „Der mißachtete Leser: Zur Kritik der deutschen Presse“. Köln: Kiepenheuer & Witsch.

Haarkötter, Hektor (11.11.2015). Telefoninterview. Fernsehjournalist, Autor, Hochschullehrer.

Knop, Carsten (06.12.2015). E-Mail Interview. Verantwortlicher Redakteur für Wirtschaftsberichterstattung und Unternehmen.

Langenbucher, Wolfgang R. (19.11.2015). E-Mail Interview. Führender Kommunikationswissenschaftler im deutschen Sprachraum.

Scheel, Charles (2010). „Musik als Anker politischer und medialer Attraktivität. Umfang und Grenzen der französischen Impulse in der musikalischen Programmgestaltung des Rundfunks an der Saar 1945-1957“. Medienlandschaft Saar von 1945 bis in die Gegenwart: Band 1: Medien zwischen Demokratisierung und Kontrolle (1945-1955). Zimmermann, Clemens/Rainer Hudemann/Michael Kuderna (Hrsg.). München: Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH. S. 193-217.

Süddeutsche Zeitung (2015). „Wirtschaft.“ http://www.sueddeutsche.de/wirtschaft (21.12.2015)

taz. die tageszeitung (2015). „Ökonomie.“ http://taz.de/!p4623/ (20.12.2015)

„Wirtschaft.“ Frankfurter Allgemeine Zeitung; Nr. 270 (20. November 2015)

„Wirtschaft.“ Süddeutsche Zeitung; Nr. 276 (30. November 2015).

„Wirtschaft + Umwelt.“ taz. die tageszeitung; Ausgabe Hamburg, Nr. 10881, 49. Woche, 37. Jahrgang (30. November 2015)

WISO (2015). https://www-1wiso-2net-1de-1wiso.emedien3.sub.uni-hamburg.de/dosearch?isBackToSearch=true