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Polizeigewalt: Ein Fallbeispiel aus Köln

Übertriebene Härte bei Polizeieinsätzen, auch bei kleineren Delikten, ist immer wieder ein Thema. Betroffene werfen den Polizisten auch Formen von Selbstjustiz vor. Eine juristische Verfolgung ist aus strukturellen Gründen schwierig. Auch in den Fällen, die öffentlich werden, folgt nur selten eine Verurteilung. Die INA ist einem drastischen Fall aus Köln nachgegangen, in dem ein Opfer von Polizeigewalt sich juristisch gewehrt hat. Über die Geschehnisse haben lokale Medien berichtet, überregional könnten sie jedoch stärker beachtet werden.

Sachverhalt und Richtigkeit:

In der Nacht vom 26. auf den 27.06.2013 kam es auf dem Platz der ehemaligen Post in Köln-Kalk zu einem Aufeinandertreffen von Polizei und einer Personengruppe. Der Polizei wird vorgeworfen in der folgenden Auseinandersetzung nicht angemessen vorgegangen zu sein und unnötige Härte gegen die Anwesenden eingesetzt zu haben. Die Personen hatten sich auf dem Platz angesammelt, nachdem die Polizei zuvor eine Hausparty aufgelöst hatte. „Es herrschte eine ruhige und friedliche Atmosphäre zwischen den Leuten“ sagt Andrea K. (Name geändert), eine der Anwesenden. Die Polizisten, die bereits bei der Hausparty vor Ort waren, forderten Verstärkung an, sodass eine Vielzahl von Polizeibeamten, inklusive Hundestaffel, am Platz vor der Kalker Post eintrafen. Es wurde ein Platzverweis für sämtliche Personen vor Ort veranlasst. Der Platzverweis wurde nicht nur für den Bereich Kalk-Post, sondern für den gesamten Stadtteil Kalk erteilt. Auf einem Handyvideo sind deutlich Personen zu erkennen, die auf dem Platz herumstehen bzw. auch sitzen und sich normal verhalten. Bis Polizeibeamte den Platzverweis mit dem Einsatz von Pfefferspray und Hunden gewaltsam durchsetzen. Laut Zeugenaussagen ging kein aggressives Verhalten von der Personengruppe aus. Dabei wurde unter anderem Andrea K. in Gewahrsam genommen und auf die Polizeidienststelle in Kalk gebracht.

Nach einer groben Durchsuchung und einem Alkoholtest, der 0,0 Promille ergab, wurde Andrea K. von drei männlichen und zwei weiblichen Polizeibeamten in eine Zelle gebracht und dort zur vollständigen Entkleidung aufgefordert. Sie sah keinen Grund dazu, wurde jedoch von der Polizei unter Druck gesetzt. Andrea K. bat darum, dass die männlichen Beamten die Zelle verlassen sollen, was diese auch taten und vor der angelehnten Zellentür warteten. Andrea K. versuchte dann noch einmal „von Frau zu Frau“ den Beamtinnen klar zu machen, dass sie sich nicht entkleiden wolle, woraufhin ihr direkt am Kleid und gleichzeitig auch an den Haaren gezogen wurde. Andrea K. versuchte in diesem Moment – nicht gewaltsam – die Hände von ihrem Körper zu entfernen. Dies hatte jedoch die Folge, dass eine Beamtin sie an die Wand drückte und „Sie ist gewalttätig“ rief. Daraufhin stürmten die drei Polizisten in die Zelle, drückten Andrea K. zu Boden, setzten sich auf ihren Rücken und rissen ihr die Kleidung vom Körper. Sie wurde dann in allen Körperöffnungen abgetastet. Die Untersuchung war dabei ohne Befund. Anschließend wurde sie (nackt) in eine andere Zelle geschliffen. Dort musste sie eine Stunde warten, sie hatte keinen Zugang zu Wasser und ihre Kleidung wurde ihr vorenthalten. Ein Telefonanruf wurde ihr verweigert.
Um 6.00 Uhr wurde Andrea K. entlassen. Nach eigenen Angaben unschuldig und von den Vorfällen in der Polizeistation traumatisiert. Sie wurde im Anschluss auf Landfriedensbruch (Par. 125 StGB), Widerstand gegen Polizeivollzugsbeamte (Par. 113 StGB) und Beleidigung (Par. 185 StGB) angeklagt.

Laut Andrea K. liegt eine ganz klare Täter-Opfer-Umkehrung vor. Andrea K. versucht ihre Unschuld zu beweisen und klagt selbst gegen die Polizisten. Dabei geht es um die Vorkommnisse, die auf der Polizeiwache stattfanden und um die Ingewahrsamnahme, sowie den Platzverweis.

Auch der deutsche Rechtswissenschaftler und Kriminologe, Tobias Singelnstein, schreibt in seinem Aufsatz über „Körperverletzung im Amt durch Polizisten“, dass „bundesweit jährlich um die 2.000 strafrechtliche Ermittlungsverfahren wegen Körperverletzung im Amt“ durch Polizisten erfasst. Laut dem Experten können diese Werte, entnommen aus der Polizeikriminalstatistik (PKS), den tatsächlichen Umfang von rechtswidriger Polizeigewalt jedoch kaum beleuchten und das Dunkelfeld von nicht angezeigten Fällen sei um ein Vielfaches größer. Kleinigkeiten wie zum Beispiel Missverständnisse, Ruhestörungen oder die Verweigerung eines Alkoholtests resultieren in diesen Beispielen häufig in übertriebener polizeilicher Härte gegen die Beschuldigten.

Ein Polizist spricht im Interview davon, dass man natürlich wisse, „dass in der Öffentlichkeit schnell mit dem Handy gefilmt wird. Jedoch bekomme niemand mit, was hinter den Mauern der Polizei vor sich gehe. Dort würde man sich auch ab und zu nicht ganz korrekt verhalten und auch schon einmal Hand anlegen, wenn beispielsweise jemand nicht aufhöre zu provozieren.“ Er erklärt, es sei in bestimmten Situationen einfach eine menschliche Reaktion, wenn man gekränkt, beleidigt oder gar angegriffen werde. „Man reagiert dann einfach, obwohl man eigentlich weiß, dass man es nicht darf.“

Rafael Behr von der Akademie der Polizei in Hamburg schreibt in seinem Buch „Cop Culture“ über dieses Bestrafen aus Selbstjustiz und nennt es Reziprozität – eigene Überzeugung von Gerechtigkeit – „Gemeint ist eine Art Bestrafung an Ort und Stelle, in der Regel in Form von körperlicher Gewalt. Dass das rechtlich nicht einwandfrei ist, wissen die meisten, aber es ist ihre Form der Vergeltung, sie halten es für die einzige angemessene Reaktion auf die (vermutete) Tat“.

Andrea K. konnte mit großer Mühe ihre Unschuld, die Falschaussagen und die Fehler der Polizei beweisen. Jedoch ist es häufig der Fall, dass Aussage gegen Aussage steht und die Polizei einen Vertrauensvorschuss von der Justiz habe, sagt Martin Rätzke, Experte der Stiftung Victim Veto für Opfer rechtswidriger Gewalt. Die Statistik von Tobias Singelnstein, über erledigte Verfahren in Bezug auf die Gewaltausübung und Aussetzung durch Polizeibeamte, unterstreicht diese Aussage mit ganz klaren Werten. 2012 wurden nämlich über 85 Prozent dieser Verfahren eingestellt (Quelle: Statistisches Bundesamt)
Der Fall von Andrea K. wurde sogar vor dem Münchener Verwaltungsgericht besprochen und hat zur Folge, dass die Anordnung im Kölner Polizeipräsidium, dass in Gewahrsam genommene Menschen sich entkleiden müssen, rechtswidrig ist. Allerdings gab es bis heute keine disziplinarischen Maßnahmen für die involvierten Beamten.

Relevanz:
Es ist nicht die Regel, aber immer wieder passiert es, dass Menschen grundlos von der Polizei geschadet wird. Die Polizisten wissen, dass sie in der mächtigeren Position sind und nutzen es aus, dass ihre Opfer häufig eingeschüchtert sind. Nur Wenige gehen den Schritt die Beamten anzuzeigen und das gibt Polizeibeamten Sicherheit. Außerdem werden ihre Aussagen oft bevorschusst und Situationen so dargestellt, dass es eine Täter-Opfer-Umkehrung gibt. Wenn es alle paar Jahre einmal vorkommt, dass sich jemand, wie Andrea K., so intensiv für ihr Recht einsetzt, wird dies eher in Kauf genommen, als von polizeilichen Übergriffen oder gar Selbstjustiz abzulassen. Polizisten werden also weder von der Menge der Menschen, die dagegen vorgehen, noch von disziplinarischen Maßnahmen abgeschreckt. Daher muss auf dieses Thema aufmerksam gemacht werden, weil viele Bürger ihre Rechte der Polizei gegenüber nicht kennen und sich damit auseinander setzen sollten.

Vernachlässigung:

Von polizeilicher Härte und Selbstjustiz in Verbindung mit der Polizei wird in den deutschen Medien häufig nur über Warnungen der Polizei vor Selbstjustiz bei verschiedenen Tätern berichtet. Meistens im Zusammenhang mit einer konkreten Straftat (z.B. FAZ: „Beuth will Selbstjustiz der Scharia-Polizei nicht dulden“, 07.09.2014; Abendzeitung München: „Tod eines Achtjährigen – Polizei warnt vor Selbstjustiz“,28.07.2014). Der Fall von Andrea K. wurde in einigen Artikeln falsch recherchiert, beispielsweise war die Anzahl der beteiligten Polizisten in der Zelle unstimmig (z.B. SZ: „Nackt bei der Polizei“, 10.12.2015). Lediglich der Kölner Stadtanzeiger stellt den Fall von Andrea K. korrekt dar (z.B. Ksta: Verwaltungsgericht entscheidet über Untersuchungspraxis der Polizei, 20.10.2015). Dennoch ist das Thema „Polizeiliche Selbstjustiz“ in den deutschen Medien weitgehend unterrepräsentiert. Das vermutet auch die Trefferanzahl bei der Google-Suche, wenn man „Polizeiliche Selbstjustiz“ eingibt (169 Ergebnisse, 19.01.2016).
Vorfälle solcher Art sollten in den Medien diskutiert werden, da so Polizisten erhöhten Druck gegen das Handeln aus eigenem Ermessen spüren.
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Quellen:

E-Mail Verkehr mit Sven Tamer Forst (Anwalt von Andrea K.)

Interview Andrea K. (Name geändert) (21.12.15; 14.00 Uhr)

Foto-/Video-Material von Andrea K.

Prozessunterlagen von Andrea K.

Interview mit einem Polizisten (Name darf nicht genannt werden) (19.11.15 11.30 Uhr)

Telefonat und Email-Verkehr mit Martin Rätzke (Victim Veto)

Onlinerecherchen auf ksta.de (17.12.15); express.de (17.12.15); victim-veto.org (15.12.15); victim-veto Facebook Seite (12.01.16); stern.de (15.12.15); kritische-polizisten.de; netzpolitik.org (15.12.15); correctiv.org (15.12.15)

Rafael Behr: Cop Culture – Der Alltag des Gewaltmonopols: Männlichkeit, Handlungsmuster und Kultur in der Polizei; VS Verlag für Sozialwissenschaften, 28.07.2008
Kommentar:

„Ich saß fast eine Stunde still und völlig verängstigt in der Ecke der Zelle.“
(Andrea K.)

„Die Legitimität ist bei Polizeibeamten teilweise höher als die Legalität.“
(Martin Rätzke)