2015: Top 6

Überwachung in Skigebieten

Skitouristen in den Alpenländern werden heute ohne ihr Wissen an Liftstationen fotografiert. Die Bilder werden von den privaten Betreibern gespeichert und verarbeitet, zum Beispiel um zu kontrollieren, dass Skipässe nicht weitergegeben werden. Nutzer werden darüber aber nicht immer informiert. Ähnliche Einlasskontrollsysteme vom gleichen Hersteller gibt es auch in Sportstadien und in Parkhäusern. Aus der Kombination der Daten könnten Bewegungsprofile erstellt werden. Ein Beispiel dafür, wie heute weite Lebensbereiche von der Datensammelwut privater Firmen betroffen sind, und darum ein hoch relevantes Thema.

Sachverhalt & Richtigkeit:

Gutes Aussehen im Skiurlaub war bislang eher beim Après-Ski wichtig. Inzwischen kann aber auch während des Wintersports mitten im Skigebiet das Aussehen eine große Rolle spielen und darüber mitentscheiden, ob der Bergurlauber überhaupt noch mit dem Skilift weitertransportiert wird oder nicht. Diese Erfahrung musste die Lehrerin Andrea K. aus Gladbeck machen. Sie verbrachte den Winterurlaub im Skigebiet Les Quatre Vallées im Schweizer Kanton Wallis mit ihrer jungen vierköpfigen Familie sowie einer befreundeten Familie, die ebenfalls Kleinkinder dabei hatte. Das eine Ehepaar ging vormittags auf die Piste, während die Freunde die kleinen Kinder beaufsichtigten. Am Nachmittag wurde getauscht. Getauscht wurden auch die Skipässe, was nicht ganz mit den Beförderungsrichtlinien von Tele-Nendaz, dem Liftbetreiber, übereinstimmte. „Es gibt für das Skigebiet keine Halbtageskarten, übertragbare Skipässe oder andere Angebote für junge Familien mit Kleinkindern“, erzählt Andrea K., „wir hätten für jeden Erwachsenen einen eigenen Wochenskipass kaufen müssen, obwohl wir nicht mal die halbe Zeit auf Skiern gestanden hätten“.

Diese scheinbar sparsame Lösung erwies sich als sehr kostspielig. Denn schon am Nachmittag des ersten Skitags blieben die Schranken des Skilifts mitten im Skiressort für Andrea K. und ihren Mann versperrt. Gerade noch die Fahrt zur Zentrale des Liftbetreibers wurde ihnen gestattet. Dort konfrontierte sie ein Mitarbeiter von Tele-Nendaz mit gestochen scharfen Foto-Ausdrucken von ihnen sowie ihren Freunden, alle in Skibekleidung beim Betreten der Liftanlagen – obwohl die Skifahrer nie wissentlich fotografiert worden sind oder selbst Fotos beim Liftbetreiber hinterlegt hätten. Der Verstoß gegen die Beförderungsregeln kostete die beiden Familien je 200 Franken Strafe.

Das Skigebiet Les Quatre Vallées erstreckt sich auf über 400 Pistenkilometern zwischen den, wie der französische Name schon sagt, vier Tälern von Nendaz bis ins mondäne Verbier und ist damit das größte Skigebiet der Schweiz und das drittgrößte in Europa. Über 400.000 Übernachtungsgäste zählt allein das Alpenstädtchen Verbier in jedem Winter: Touristen, die zum Wandern oder Skifahren massenhaft die Liftanlagen der Quatre Vallées nutzen. Und die dabei an den 92 Liftanlagen und Bergbahnen massenhaft ohne ihr Wissen fotografiert werden.

Die Technik dahinter stammt vom österreichischen Unternehmen SkiData. Die Firma hat sich auf Einlasskontrollen spezialisiert, nicht nur für Skigebiete, sondern mittlerweile auch für Parkhäuser oder Fußballstadien. Seit ihrer Gründung in den 1980er Jahren hat sich SkiData zum absoluten Marktführer auf diesem Gebiet entwickelt. Der Salzburger Hersteller rüstet über 80 Prozent aller Skigebiete im Alpenraum mit Zugangskontrollsystemen aus. Das System, das in Verbier zum Einsatz kommt, nennt sich „Freemotion.Gate“. Es bietet den Skifahrern einige Annehmlichkeiten. Die Einlasskontrolle erfolgt heute mittels einer Chipkarte, auf der die persönlichen Daten sowie die gebuchten Skitage gespeichert sind und die der Wintersportler getrost in den Untiefen seiner Sportbekleidung belassen kann. Die Berechtigungsprüfung erfolgt per funkbasiertem Chipkartenleser. Ein Foto wird auf dem sogenannten RFID-Chip nicht gespeichert. Stattdessen wird beim ersten Zutritt von jedem Gast ein Referenzfoto geschossen und in einer gigantischen Datenbank gespeichert. Zu diesem Zweck ist eigens eine kleine Kameralinse in das Gehäuse des Zugangssystems eingelassen. Bei jeder neuen Liftbenutzung werden die Gäste wieder fotografiert und die Aufnahmen miteinander verglichen: Gesichtskontrolle im Skigebiet.

Für die Betreiber von Skiliften lohnt sich die Investiton in das kostspielige „Freemotion.Gate“-System. Jeder zehnte personalisierte Liftpass soll missbräuchlich verwendet werden. Seit SkiData in der Skisaison 2008/2009 die Technologie auf den Markt gebracht hat, konnten in den so ausgerüsteten Skigebieten die Zahl der Missbrauchsfälle drastisch reduziert werden. Herstellerangaben zufolge amortisiert sich die Fototechnik schon nach einem Jahr.

Die Gesichtskontrolle erfolgt nicht automatisch mittels biometrischer Software, sondern ganz altmodisch per Augenschein. Die Mitarbeiter des Liftbetreibers setzen sich dafür zu Tageszeiten mit geringem Fahrgastaufkommen an Monitore und überprüfen die verschiedenen fotografischen Aufnahmen, die zu ein und demselben Skipass vorliegen. „Eine automatische Erkennung per Software ist momentan noch nicht möglich“, erklärt Christian Lang, bei SkiData der Produktlinienmanager für den Bereich Zugangskontrollen. „Biometrische Verfahren vermessen Mund-, Nasen- und Augenabstand. Solche Daten können aber momentan hinter Schals, Skibrillen und Helmen noch nicht automatisch erfasst werden“. Allerdings arbeite SkiData intensiv daran, die Gesichtskontrolle auch eingemümmelter Wintersportler künftig mit den Methoden der Biometrie automatisieren zu können und von Computersoftware statt von Menschen durchführen zu lassen. In der Entwicklungsabteilung der Salzburger Technologiefirma arbeiten 110 der weltweit 700 Mitarbeiter.

Das Datenaufkommen durch die heimliche Fotografiererei ist enorm. Mit den Bergbahnen im Skigebiet Les Quatre Vallées können pro Stunde über 70.000 Gäste befördert werden. Das heißt, dass ebenso viele Fotoaufnahmen hergestellt und gespeichert werden – 70.000 pro Stunde. Und beileibe nicht nur die Skigäste im Wallis werden ins Bild gesetzt. Praktisch alle Einlasskontrollsysteme, die SkiData heute neu installiert, haben das heimliche Kameraauge. Die Gesichtserkennung ist dann für die Liftbetreiber einfach gegen Aufpreis hinzuzubuchen. „Für die kleinen Skigebiete lohnt sich das nicht, aber die großen machen es eigentlich alle“, weiß Produktmanager Christian Lang.

Das wirft Fragen nach dem Datenschutz auf. Die Behörde des Eidgenössischen Datenschutz- und Öffentlichkeitsbeauftragten hatte in der Vergangenheit schon häufiger mit der Thematik Biometrie in Freizeitanlagen zu tun. Die Sport- und Freizeitanlagen Schaffhausen kassierten schon 2006 einen Rüffel, weil Hallenbadbesucher ihre Fingerabdrücke speichern lassen sollten. Der Tätigkeitsbericht des Schweizer Datenschutzbeauftragten für das Jahr 2010/11 weist auf Fälle hin, in denen Disco- und Nachtclubbesitzer nicht nur Fotos von mit Hausverbot belegten Gästen gespeichert und biometrisch abgeglichen hätten, sondern diese Daten auch noch untereinander ausgetauscht hätten. Und auch die Skiliftbetreiber gerieten wiederholt ins Visier der Datenschützer. Schon ältere Zugangssysteme mit Passfotos auf den Liftkarten gaben datenschutzrechtlich Grund zur Sorge. Denn die Kontrollmonitore in den engen Liftwärterhäusschen waren oft so aufgestellt, dass alle Skigäste die persönlichen Daten der Passinhaber einsehen konnten.

Darum sieht Francis Meier, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Eidgenössischen Datenschutzbeauftragten, mit dem „Freemotion.Gate“-System von SkiData gleich mehrere Schwierigkeiten. Zum einen müsste die Verhältnismäßigkeit der Fotospeicherung geprüft und die Aufbewahrungsdauer der Daten konkret geregelt sein. „Es könnte ein Problem darstellen, wenn alle fotografiert werden, obwohl nur einige kontrolliert werden“, so Meier. Zum anderen bestehe ein klarer „Verbesserungsbedarf bei der Information“.

Tatsächlich werden die Skigäste in Les Quatre Vallées nicht darüber informiert, dass sie ständig fotografiert und diese Fotodaten gespeichert werden. Die Geschäftsbedingungen, die etwa auf der Website des Liftbetreibers einzusehen sind, enthalten zwar einige Klauseln bezüglich der SkiData-Keycard und ihrer Benutzung. Auf Gesichtskontrolle und Fotopraxis gehen sie aber mit keiner Silbe ein.

Auch in deutschen Skigebieten lösen die Gesichtserkennungsverfahren von SkiData Bedenken aus. Der baden-württembergische Datenschutzbeauftragte Jörg Klingbeil nennt die Fotoüberwachung harmloser Skifahrer eine „kritische Entwicklung“. Schließlich stecken die Skifahrer in einer Zwangssituation, wenn sie die Aufstieghilfen der Liftgesellschaften benutzen wollen und dafür nicht anders können, als der daran gekoppelten Gesichtserkennung zuzustimmen. Klingbeil kennt sich mit den datenschutzrechtlichen Problemen rund um biometrische Gesichtserkennung aus. In seinem Amtsbereich hatte 2011 das Karlsruher Institut für Technologie (KIT) im Auftrag des Bundesministeriums für Bildung und Forschung gesichtserkennungsdienstliche Maßnahmen beim Fußballdrittligisten Karlsruher SC durchführen wollen. „Nicht einmal der Datenschützer des KIT hat etwas davon gewusst“, erinnert sich Klingbeil. Nachdem die Fußballfans protestiert und der Landesdatenschutzbeauftragte sich eingeschaltet hatte, wurde der Testbetrieb in Sachen Gesichtserkennung beim KSC abgeblasen. Das KIT experimentiert weiter mit biometrischer Gesichtserkennung, inzwischen aber in einem „closed shop“-Verfahren und inklusive datenschutzrechtlicher Bewertung.

Der Schweizer Umgang mit der massenhaften Speicherung von Fotodaten in Skigebieten könnte denn auch nach europäischen Standards zu lax sein. Denn die Schweiz ist über den Europarat assoziiertes Mitglied der sogenannten Artikel-29-Gruppe. Das ist eine Einrichtung der Europäischen Kommission für den Schutz von Personen bei der Verarbeitung personenbezogener Daten. „Selbst wenn in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen auf die Gesichtskontrolle hingewiesen würde, wäre das wohl zu wenig“, urteilt Datenschützer Klingbeil. Nötig sei vielmehr eine ausdrückliche Einwilligung der Skifahrer.

Wohin die massenhafte Speicherung von Nutzerdaten führen kann, macht ein anderer Service deutlich, den Les Quatre Vallées ihren Gästen bieten. Wer sich im Internet bei dem Dienst „Skiline“ registriert, erhält für jeden Skitag eine statistische Analyse mit den gefahrenen Höhenmetern und einem Höhenmeterdiagramm. SkiData rüstet aber nicht nur Skigebiete, sondern auch Parkhäuser mit Einlasskontrollsystemen aus. Wer seine Chipkarte aus dem Urlaub im Portemonnaie vergisst, über den könnte ein Betreiber unter Umständen komplette Bewegungsprofile erstellen: von den höchsten Alpengipfeln bis in die Niederungen norddeutscher Tiefgaragen. Das Skigebiet Les Quatre Vallées eignet sich vielleicht auch aufgrund einer kuriosen personellen Verquickung für solche Testläufe massiver Kundendatenspeicherung: Der Geschäftsführer von SkiData, Julien Moulin, war zuvor Kommunikationsdirektor von Verbier.

Die Gelsenkirchener Lehrerin Andrea K. wird sich künftig die Skidestinationen für ihren Winterurlaub nicht nur nach Familienfreundlichkeit, sondern auch nach datenschutzrechtlichen Aspekten aussuchen. Denn die Urlaubsfotos vom Schneevergnügen möchte sie lieber selbst schießen und nicht von einer Überwachungsmaschine bekommen.

Relevanz:

Betroffen sind nicht nur die 6 Millionen aktiven Skifahrer in Deutschland, sondern durch den zunehmenden Einsatz computergesteuerter Einlasskontrollen in anderen Sportanlagen und im Straßenverkehr große Teile der Bevölkerung. Die flächendeckende Gesichtserkennung und die Möglichkeit der massenhaften Speicherung von Bewegungsprofilen stellt für große Teile der Bevölkerung einen Eingriff in ihr informationelles Selbstbestimmungsrecht dar.

Vernachlässigung:

Der Einreicher hat das Thema selbst recherchiert und sich mehr als ein Jahr bemüht, den Beitrag in Publikums- und Fachmedien unterzubringen. Stern, Spiegel, Handelsblatt und das Computermagazin c’t haben eine Veröffentlichung abgelehnt. Das Problem der Gesichtserkennung in deutschen Sportstadien wurde allenthalben publiziert, vor allem rund um die Versuche des Karlsruher Instituts für Technologie (KIT) im Jahr 2012. Hierzu sind Presseberichte beispielsweise in den Stuttgarter Nachrichten („Rote Karte für den Versuch mit der Gesichtserkennung“, 02.08.2011), der Schwäbischen Zeitung („Keine Gesichtserkennung im KSC-Stadion“, 02.03.2012) oder bei Focus Online erschienen („Gesichtserkennung: Datenschützer warnen davor“, 02.03.2012). Auch andere Aspekte der automatisierten Gesichtserkennung, zumeist mit kritischem Unterton gerade hinsichtlich des Datenschutzes, finden sich vereinzelt in Presseartikeln. In Sachen Fußball wurde das Thema rund um die Sicherheitsproblematik bei der damals bevorstehenden Fußball-WM mehrfach thematisiert und negativ bewertet (z.B. Computerbild am 11.08.2012, Süddeutsche Zeitung am 01.08.2013, Berliner Morgenpost am 06.06.2014).

Mediale Aufmerksamkeit fand auch die Ankündigung des Sozialen Netzwerks Facebook, gepostete Fotos automatisiert durch eine Gesichtserkennungssoftware namens „DeepFace“ zu schicken (z.B. Süddeutsche Zeitung vom 11.07.2014, Welt kompakt vom 05.08.2014, Berliner MoPo Online vom 29.04.2014 sowie mehrere Artikel vom 09.04.2014). Einige Seitenaspekte computergestützter Gesichtserkennung findet ebenfalls hin und wieder Niederschlag in der Presse. Auf Interesse stieß unter Journalisten vor allem auch die Möglichkeit automatisierter Gesichtskontrollen beim Grenzübertritt: Hierüber berichtete etwa der Wiener Standard am 08.05.2013. Kurios erscheint dabei, dass einige Medien (wie der österreichische Blick am 08.01.2015 oder die Süddeutsche Zeitung am 22.12.2014) vor allem den Aspekt problematisieren, dass „Geheimagenten“ künftig an Grenzen Schwierigkeiten haben könnten, ihre falschen Identitäten aufrecht zu erhalten. Andere Aspekte der digitalen Gesichtserkennung haben ebenfalls eher im Panorama-Ressort Einzug in die Presse gehalten, zum Beispiel Gesichtskontrollen in Diskotheken (Berliner MoPo am 16.06.2014). Das spezielle Thema der Gesichtserkennung in Skigebieten oder der Einlasskontrollen in Parkhäusern fand medial nach Recherchen in mehreren Pressedatenbanken (Genios, Google News) keinen Niederschlag.

Quellen:

Persönlicher Bericht der Informantin; Weitere persönliche Gespräche mit Betroffenen (insges. vier Fälle);

Email-Verkehr und Telefonate mit Firma SkiData;

Email-Verkehr und Telefonate mit dem Tourismusverband Verbier-St. Bernhard;

Telefonat mit der Schweizer Datenschutzbehörde; Telefonat mit dem Landesdatenschutzbeauftragten Baden-Württemberg;

Onlinerecherchen auf www.verbier.ch, www.skidata.com, www.schwaebische.de, www.edoeb.admin.ch, www.skicontrol.de, www.focus.de;

Telefonat mit dem Chaos Computer Club und AK Vorratsdatenspeicherung;

Dokumente des Eidgenössischen Beauftragten für den Datenschutz, des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, des Bund Naturschutz.

Zitate: 

 

„Es könnte ein Problem darstellen, wenn alle fotografiert werden, obwohl nur einige kontrolliert werden. … es besteht klar Verbesserungsbedarf bei der Information“. (Francis Meier, wissenschaftlicher Mitarbeiter beim Eidgenössischen Datenschutzbeauftragten)

 

„Die Fotoüberwachung harmloser Skifahrer stellt eine kritische Entwicklung dar“. (Jörg Klingbeil, Landesdatenschutzbeauftragter Baden-Württemberg)

 

„Wenn die Betroffenen nicht wissen, dass sie fotografiert werden, ist das ein massiver Eingriff ins informationelle Selbstbestimmungsrecht“. (Jochim Selzer, Chaos Computer Club und Mitglied im AK Vorratsdatenspeicherung)