2015: Top 3

Prekäre Verhältnisse in Ausbildungsberufen

Regelmäßig einmal im Jahr ist die berufliche Ausbildung ein Thema in den Medien: Zum Beginn des neuen Ausbildungsjahrs, wenn es in bestimmten Berufen an Bewerbern mangelt. Jugendliche und junge Erwachsene haben aber gute Gründe, bestimmte Ausbildungen nicht anzustreben: Ein Friseurlehrling in den neuen Bundesländern bekommt zum Beispiel einen durchschnittlichen Monatslohn von 269 Euro, bei angehenden Schuhmachern und Floristen ist es nur wenig mehr. Prekär sind nicht nur die Löhne, sondern in manchen Branchen auch die Arbeitsbedingungen. Unbezahlte Überstunden für Azubis sind in einigen Branchen die Regel. Die Initiative Nachrichtenaufklärung legt ein Ranking der am schlechtesten bezahlten Berufe vor und erzählt die Geschichten einer angehenden Tanzlehrerin und eines Koch-Azubis.

Sachverhalt & Richtigkeit:

In einer Ausbildung sollen dem Lehrling die Grundvoraussetzungen für den spezifischen Berufszweig mittels Theorie und Praxis näher gebracht werden. Die geltenden gesetzlichen Vereinbarungen gemäß Berufsbildungsgesetz von 1969 geben die Rahmenbedingungen für die Arbeitnehmer- und die Arbeitgeberseite vor. Demnach muss die Ausbildungsvergütung eine Grundvoraussetzung erfüllen: die „Angemessenheit“. Diese wird unter zwei Gesichtspunkten betrachtet: Erstens die Deckung des Lebensunterhalts und zweitens die Relation zwischen der geleisteten Arbeit und der Entlohnung. Darüber hinaus lässt man den Tarifparteien einen großen Spielraum (Tarifautonomie), indem man einräumt, die Voraussetzung der Angemessenheit sei immer dann erfüllt, wenn in der jeweiligen Branche eine verpflichtende Tarifvereinbarung vorhanden sei.

Das Durchschnittsalter der Auszubildenden steigt hierzulande. Wo es früher noch normal war, im Alter von 15 oder 16 Jahren eine Ausbildung zu beginnen, liegt der Altersdurchschnitt zu Ausbildungsbeginn heute bei 19 Jahren. Damit steigt auch der Finanzbedarf, doch die Ausbildungsvergütungen wurden den neuen Umständen nie angepasst. Und es fallen noch nicht mal alle der in Deutschland angebotenen Ausbildungen unter die Tarifvereinbarungen. Bei vielen Ausbildungsvergütungen, die unter die Tarifvereinbarungen fallen, gibt es trotzdem einen wirtschaftlichen Spielraum, den die Arbeitgeber ausnutzen. Nach einer Berechnung des Bundesinstituts für Berufsbildung, die Kosten und Nutzen in Relation setzt, erwirtschaften Betriebe einen Überschuss von 25% mit den Azubis. Für nicht tarifvertraglich geregelte Lehrberufe gilt eine maximale Untergrenze von 80%, die sich auf Ausbildungen in einer vergleichbaren Region/Branche bezieht. Diese Regelung gibt den Betrieben einen Ermessensspielraum hinsichtlich der Vergütungshöhe. Bei einigen nicht staatlich-anerkannten Ausbildungsberufen kommt noch erschwerend hinzu, dass der Betrieb für die Kosten des schulischen Teils der Ausbildung tragen muss. Ein anderes Problem ist die Anhebung der Grenze des Steuerfreibetrags für Minijobber. Für Ausbildungsvergütungen gilt weiterhin die alte Grenze von 325 €. Im Falle einer Anhebung des Steuerfreibetrags auf 375 € hätte man einen Anreiz für den Arbeitgeber geschaffen.

Wessen Leistungen werden am schlechtesten belohnt? Nur 1,1% aller Auszubildenden beziehen ein Gehalt von über 1000€, andererseits erhalten aber genauso viele am Monatsende weniger als 250 €. 30 % verdienen zwischen 750€ und 1000 €, und rund ein Viertel wird mit einem Betrag von 250€ bis 500€ vergütet. Die Hälfte aber bekommt 500€ bis 700 € monatlich. Aber welche Ausbildungsberufe werden am schlechtesten bezahlt? Diese Frage soll das folgende Ranking beantworten:

Top Twenty der am lausigsten bezahlten Ausbildungsberufe

                                                                                                                                                                                            Durchschnittliche Beträge in € pro Monat

Berufsbezeichnung Bereich Alte Bundesländer Neue Bundesländer  
gesamt gesamt  
Raumausstatter/-in Hw 441
Buchbinder/-in (alle Fachrichtungen) Hw 456 456
Schuhmacher/-in Hw 462 312
Friseur/-in Hw 469 269
Tankwart/-in IH 475 375
Mechaniker/-in für Reifen- und Vulkanisationstechnik (alle FR) Hw 476
Bauten- und Objektbeschichter/-in Hw 505 505
Orthopädieschuhmacher/-in Hw 507
Bäcker/-in Hw 550 550
Maler/-in und Lackierer/-in (alle Fachrichtungen) Hw 558 558
Steinmetz/-in und Steinbildhauer/-in (alle Fachrichtungen) Hw 562 520
Mechaniker/-in für Land- und Baumaschinentechnik Hw 565
Schilder- und Lichtreklamehersteller/-in Hw 567
Fachverkäufer/-in im Lebensmittelhandwerk Hw 569 504
Florist/-in IH 571 312
Ofen- und Luftheizungsbauer/-in Hw 579 550
Anlagenmechaniker/-in für Sanitär-, Heizungs- und Klimatechnik Hw 590 564
Klempner/-in Hw 590
Tischler/-in Hw 591 614
Tiermedizinische/-r Fachangestellte/-r FB 593 593
Glaser/-in Hw 594
 Abkürzungen:   
IH = Industrie und Handel
Hw = Handwerk
Lw = Landwirtschaft
FB = Freie Berufe
ÖD = Öffentlicher Dienst
Hs = Hauswirtschaft

(Quelle: INA)

Zwei konkrete Fallbeispiele sollen die Misere der Auszubildenden in Deutschland verdeutlichen:

Bei einer Auszubildenden aus Wiesbaden traten in den drei Lehrjahren einige Probleme auf. Nach dem Abitur begann sie mit 18 Jahren in Frankfurt eine Ausbildung zur Tanzlehrerin. Im ersten Lehrjahr verdiente sie für 40 Stunden wöchentlich 300€ im Monat, im Folgejahr 325€  und im letzten dann 500€ monatlich. Ihre Ausbildung fällt nicht unter die Tarifvereinbarungen. Vom zuständigen Verband wurde eine freiwillige maximale Untergrenze von 325€ im ersten Lehrjahr, 460 € im zweiten und 560 € im letzten Lehrjahr empfohlen. Es war ihr kaum möglich, mit diesem Geld den Lebensunterhalt zu finanzieren. Vor allem in den ersten beiden Lehrjahren waren die anfallenden Kosten nie gedeckt, sodass sie auf die Hilfe ihrer Eltern angewiesen war. Die finanziellen Engpässe wollte sie durch einen zusätzlichen wöchentlichen Arbeitstag ausgleichen, den bekam sie nach  Absprache mit ihrem Vorgesetzten. In dem Gespräch wurde ihr auf Nachfrage versichert, dass die zu zahlenden Abgaben keine Probleme darstellen. In der Praxis stellte es sich jedoch anders dar, denn ab 325€ werden Sozialabgaben fällig. Somit bekam sie nur noch 280 € im Monat, obwohl sie einen Tag mehr arbeitete. Als die Auszubildende ihre Unzufriedenheit äußerte, zahlte man ihr als Kompromiss 25 € extra pro Monat und gewährte ihr vier Tage Sonderurlaub für das Lehrjahr. Im zweiten Jahr der Ausbildung wurden 325 € und eine Bonuszahlung von 65 € für den sechsten Arbeitstag gezahlt, was nach den steuerlichen Abzügen lediglich 310 € machte. Neues Lehrjahr, gleiches Problem, nach erneuter Vereinbarung  gab es diesmal sechs Tage Sonderurlaub. Im letzten Lehrjahr sah es mit der Vergütung wie folgt aus: Auf 500 € kamen 100 € für Nacht- und Feiertagszuschläge, welche von der Besteuerung ausgeschlossen sind. Unterm Strich gab es im letzten Lehrjahr ein Gehalt von 500 €, da sich die Sozialabgaben auf 100€ summierten.

Im zweiten Fallbeispiel geht es um Friedrich D. aus Bochum, der 2010 im Alter von 20 Jahren eine Ausbildung zum Koch begonnen hat. Im Einklang mit den geltenden Tarifen würde er einen Lohn von 576 €, 672 € und 757 € in den drei Ausbildungsjahren bekommen. In der Praxis gab es aber in diesem Fall 531 €, 678 € und 780 €, somit wurden die Tarifvereinbarungen mehr oder weniger eingehalten. Problematisch wurde es hier im Bereich der Arbeitszeiten, die sich auf 80 Stunden in der Woche summierten. Ein freies Wochenende gewährt ein Gastronom seinen Mitarbeitern nur allzu selten. Pausen bei 16 Stunden Schichten wurden nicht eingeräumt und an Nacht- und Feiertagszuschläge war gar nicht zu denken. Selbst Fieber und Erkältung sind keine Entschuldigung. An einem Arbeitstag schnitt sich der Lehrling ein Stück von der Fingerkuppe ab und durfte erst nach zehn Stunden einem Arzt aufsuchen.

Tim Raue, ein renommierter deutscher Koch, sagte in einer Folge der ARD Sendung „Die Story“ über den Kochberuf, dass so etwas ganz normal sei. Die Auszubildenden sollten erst „gebrochen“ werden, wie bei der Bundeswehr.  Was die konkreten Arbeitsbedingungen des Kochazubis Friedrich D. angeht, hat die INA den Gastronom Kai Robert Paulus vom  Restaurant „Villa Paulus“ mit den Schilderungen konfrontiert. Sein Kommentar: „Die Wochenarbeitszeit entspricht dem Standard der Branche. Wer eine zu hohe Belastung beklagt, sollte sich einen anderen Beruf suchen. Ich  finde, man muss es differenziert sehen, da der Begriff gleichermaßen die hohen Ansprüche an unseren Nachwuchs zeigt. Die Ansprüche fördern die grundsätzliche Leistungs- und Belastungsfähigkeit der  Auszubildenden. Nicht jeder hat die Möglichkeit, in der gehobenen Gastronomie zu lernen, die Lehrlinge nehmen neben der Reputation viele neue Fähigkeiten und damit auch eine optimale Vorbereitung auf Berufsleben mit. Wenn Sie den rauen Umgangston mit Mängeln im zwischenmenschlichen Bereich gleichsetzen, beurteilen Sie die Situation sehr oberflächlich. Billigarbeitskräfte sind Auszubildende für uns nicht, sie ermöglichen uns erst das wirtschaftliche Überleben. Ihre Pausenzeiten können sich unsere Mitarbeiter frei einteilen, feste Pausenzeiten sind mit den Betriebsabläufen nur schwer vereinbar.“

Relevanz:

Die Bundesrepublik Deutschland verweist auch im internationalen Vergleich gerne auf die besondere Qualität der dualen Berufsausbildung. Doch das Modell bringt sich selbst in Gefahr, wenn die schlechten Arbeitsbedingungen junge Erwachsene von einem Lehrberuf abhalten. Betroffen sind darum nicht nur die 1,43 Millionen Auszubildenden in Deutschland. Denn wenn die Ausbildung noch unattraktiver wird, mangelt es an Arbeitskräften in vielen Berufsfeldern. Das Thema hat darum einen enormen gesellschaftspolitischen Stellenwert.

Vernachlässigung:

In der Presse finden sich nur sehr wenig Artikel über unzulässige Zustände in der Ausbildung. Eine Ausnahme bildet die ARD-Reportage Die Story „Traumberuf Koch?“ vom 17.09.2009. Im Tagespiegel fand sich ein Pressebericht zum Thema Ausbildungsvergütungen bei Friseuren („Wir brauchen mehr Kontrolleure“, 14.10.2013). Eine Häufung an Berichten gab es lediglich zu den Themen: „Auszubildende mit Migrationshintergrund“ und „Aktuelle Tarifverhandlungen“. Der Spiegel setzt sich mit den bestbezahlten Ausbildungen auseinander („Auf dem Bau verdienen Lehrlinge am meisten“, 07.05.2014). In der Süddeutschen Zeitung erschien ein Artikel, der einen allgemeinen Blick auf die gezahlten Vergütungen wirft („Was verdienen Azubis?, 05.04.2013“). In einem Bericht der Welt werden die unbeliebtesten Ausbildungsberufe anhand der unbesetzten Stellen vorgestellt („Diese Berufe sind bei Jugendlichen unbeliebt“, 11.06.2014). Außerdem behandelte die Welt in einem weiteren Artikel die Ausbildungsreife der Anwärter („Auszubildende- faul, ohne Disziplin, kein Interesse“, 21.08.2014), ein Thema das auch in anderen Veröffentlichungen aufgegriffen wird.

Quellen:

Persönliche Gespräche mit Betroffenen (zwei Fälle)

Bundesinstitut für Berufsbildung: Datenbank AusbildungsVergütungen

 

Zitate:

 

„Gemäß den vom Bundesinstitut für Berufsbildung errechneten Ausbildungserträgen erzielen die Betriebe pro Azubi einen Überschuss von 25%.“ (Ursula Beicht, Bundesinstitut für Berufsbildung, Arbeitsbereich „Berufsbildungsangebot und –nachfrage/ Bildungsbeteiligung“)

 

„Es müssen mehr Anreize geschaffen werden, um sich dem Problemfeld Facharbeitermangel zu erwehren. Den Geringverdienern unter den Auszubildenden wurde mit Einführung des Mindestlohns ein wichtiger Anreiz genommen. Viele junge Menschen nehmen lieber den Mindestlohn wahr, als sich für ein geringeres Einkommen ausbilden zu lassen.“ (Ingo Scheuse vom Unternehmensverband Kiel, Rechtanwalt Arbeits-und Sozialrecht)