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Moderne Rasterfahndung per Handy

Wenn die Polizei wissen will, wer sich zu einem bestimmten Zeitpunkt an einem Ort aufgehalten hat, kann sie eine Funkzellenabfrage beantragen. Sie bekommt dann von Handybetreibern die Daten aller Mobiltelefone, die sich in einem bestimmten Bereich befanden. Kritiker sprechen von einer modernen Form der Rasterfahndung, weil eine große Zahl völlig unbeteiligter Menschen von den Ermittlungen betroffen sind. Die Praxis der Funkzellenabfrage wird von den Medien vereinzelt thematisiert, vor allem im Zusammenhang mit Demonstrationen. Weniger bekannt ist, wie häufig diese Ermittlungsform mittlerweile eingesetzt wird und wie viele Daten dadurch erhoben werden.

Sachverhalt und Richtigkeit:

Aus Sicht der Polizei ist die Funkzellenabfrage ein nützliches Mittel zur Aufklärung von Verbrechen beziehungsweise zur Ermittlung von Zeugen. Damit verbunden sind allerdings Eingriffe in die Grundrechte von zahlreichen unbeteiligten Personen. Juristen, Bürgerrechtler und die Piratenpartei fordern deshalb, den Einsatz von Funkzellenabfragen regelmäßig zu überprüfen. Der Datenschutz Berlin verlangt, dass die Vorgaben der Strafprozessordnung zur Durchführung von Funkzellenabfragen und zum Umgang mit den dabei erhobenen personenbezogenen Daten konkretisiert werden, um die Bürger vor einem Missbrauch dieser Fahndungsmethode zu schützen.

Eine Funkzellenabfrage muss zunächst richterlich genehmigt werden. Die Polizei fordert dann sämtliche Handy-Verbindungungsdaten bei den Telekommunikationsunternehmen an. Dabei handelt es sich um die Besitzer aller Mobilgeräte, die zur fraglichen Zeit in Funkzellen rund um den Tatort eingeloggt waren. Diese Daten werden in der Regel per CD übermittelt und anschließend analysiert. Es handelt sich um die Bewegungsdaten der Mobiltelefone, der Inhalt von Gesprächen ist nicht betroffen. Kritisiert wird die große Zahl der auf diese Weise erfassten Daten: 2011 wurden in Berlin 4,5 Millionen Datensätze erhoben, um eine Brandstiftungsserie aufzudecken.

Die Betroffenen, deren Verbindungswege erfasst werden, bleiben in der Regel in Unkenntnis. Sie werden erst dann informiert, wenn ihre Daten im Rahmen eines Straftatbestandes zur Täterermittlung als nützlich identifiziert wurden. Nach der Ermittlung werden die Daten analysiert und gefiltert. Sollte jemand ins Fahndungsraster passen, wird er von der Polizei zur Aussage gebeten. Dieser Vorgang kann aufgrund der zahlreichen Datensätze mehrere Monate dauern.

Das Gesetz schreibt vor, dass betroffene Personen benachrichtigt werden müssen. Die Ermittlungsbehörden interpretieren diese Vorschrift regelmäßig so, dass sie nur diejenigen Personen benachrichtigen müssen, die in den weiteren Ermittlungen eine Rolle spielen. Unbeteiligte, deren Daten aber ebenfalls an die Polizei übermittelt wurden, erfahren davon nichts.

Christian Solmecke, Anwalt für Medienrecht aus Köln, hält die bisherige Praxis der Funkzellenabfrage für problematisch, da in vielen bekannt gewordenen Fällen von einer Verhältnismäßigkeit keine Rede sein könne. Der Berliner Polizei-Pressesprecher Stefan Redlich erklärt dazu: „Die Kritik der Datenschützer richtet sich vor allem an Staatsanwälte, die Funkzellenabfragen angeblich leichtfertig anordnen. […] Die Polizei kümmert sich lediglich um die praktische Umsetzung, also die Analyse der Daten.“ (Stefan Redlich, Polizist und Pressesprecher, Polizei Berlin)

Für eine Unverhältnismäßigkeit dieser Erhebungen spricht auch, dass Straftaten gegen Leib, Leben und die sexuelle Selbstbestimmung nur einen Bruchteil der Handy-Rasterfahndungen auslösen (weniger als 6% im letzten Jahr). In den meisten Fällen geht es um rechtlich als „schwere Straftaten“ eingestufte Delikte wie bandenmäßigen Raub oder Diebstahl.

Auf Anfrage der Piratenpartei erklärte das Innenministerium von Nordrhein-Westfalen, im Jahr 2013 seien insgesamt etwa 4.000 Funkzellenabfragen angeordnet worden. Das sind im Schnitt 11 solcher Abfragen pro Tag. Die Kosten für das Land wurden mit rund einer Million Euro jährlich angegeben.

Relevanz:

Abzuwägen ist der Nutzen der Funkzellenabfrage gegen den staatlichen Eingriff in die Privatsphäre zahlreicher unbeteiligter Menschen. Eine breite öffentliche Diskussion, etwa über die Verhältnismäßigkeit oder über Informationspflichten, findet bisher nicht statt. So werden täglich die Daten zahlreicher Menschen polizeilich erfasst, ohne dass die Betroffenen davon erfahren.

Vernachlässigung:                                                                                                                                 

Über die Praktik der Funkzellenabfrage wird in Deutschland vereinzelt berichtet, etwa aus Anlass von Demonstrationen. Wie häufig die Technik eingesetzt wird, ist aber nicht allgemein bekannt. Eine angemessene gesellschaftliche Debatte findet deshalb nicht statt, sie wird nur in Fachkreisen geführt. Die mediale Vernachlässigung könnte darin begründet liegen, dass die Thematik der Funkzellenabfrage abstrakt und möglicherweise schwierig zu erklären ist.

Quellen:

http://www.piratenfraktion-nrw.de/2014/06/weiterhin-steigender-gebrauch-von-funkzellenabfragen-bei-anhaltend-miserabler-informationspolitik/

http://www.datenschutz-berlin.de/public/search

http://www.mpicc.de/ww/de/pub/forschung/forschungsarbeit/kriminologie/vorratsdatenspeicherung.htm

http://www.datenschutz-berlin.de/attachments/896/Pr__fbericht.pdf

https://www.ldi.nrw.de/cgi-bin/search.cgi/ldisearch.htm?ok=Suchen&q=funkzellenabfrage&s=RPD&m=all

http://www.berlin.de/polizei/

http://www.golem.de/news/strafverfolgung-handyueberwachung-ist-alltag-und-oft-rechtswidrig-1209-94351.html

https://netzpolitik.org/2012/funkzellenabfrage-die-millionenfache-handyuberwachung-unschuldiger/

http://www.spiegel.de/politik/deutschland/berlin-massenauswertung-von-handydaten-empoert-innenexperten-a-810399.html

http://www.zeit.de/digital/datenschutz/2014-06/funkzellen-abfrage-imsi-catcher-datenschutz-nrw

http://www.wbs-law.de/anwalt/christian-solmecke/

http://www.datenschutz-berlin.de/content/berlin/berliner-beauftragter/kontakt

Zitate:

                                                                                                                                             

„Mir ist nicht ganz klar, ob die Bürger  wissen, was eine Funkzellenabfrage ist, wie oft das angewendet wird und was die Probleme dabei sind. Zehn- oder hunderttausende Mobiltelefone zu überwachen wegen einem Enkeltrick oder geklauten Bierfässern ist nicht verhältnismäßig.“ (Andre Meister, Redakteur bei Netzpolitik.org)

 

„In Deutschland wird die Funkzellenabfrage derzeit seitens des Datenschutzes kritisch hinterfragt, da in einigen Fällen von einer Unverhältnismäßigkeit gesprochen werden muss. Derzeit überprüfen wir diesen Sachverhalt und den Einsatz solcher Maßnahmen, um diesen eventuell eng zu begrenzen. Außerdem sollen die Vorgaben zur Durchführung von Funkzellenabfragen und der Umgang mit den dabei erhobenen personenbezogenen Daten konkretisiert werden.“ (Julia Schönefeld, Datenschutz Berlin)

 

„Problematisch an Funkzellenabfragen ist, dass diese einen Eingriff in das Fernmeldegeheimnis (Art. 10 GG) darstellen. Ein solcher Eingriff muss dem Verhältnismäßigkeitsprinzip genügen. Es erscheint in vielen Fällen jedoch nicht gerechtfertigt und somit unverhältnismäßig, wenn zehntausende von Menschen von einer Maßnahme betroffen werden, die selbst keinen Anlass für einen staatlichen Eingriff gegeben haben. Unklar ist auch, wie die Behörden mit den erhobenen Daten umzugehen haben. Eine explizite gesetzliche Regelung fehlt. Aus meiner Sicht wäre es zwingend notwendig solche Funkzellenabfragen gesetzlich stark einzuschränken. Das heißt, dass eine Funkzellenabfrage nur bei besonders schweren Straftaten und als letztes Mittel zum Einsatz kommen sollte.“ (Christian Solmecke, Rechtsanwalt für Medienrecht)

 

„Die Praxis spricht für sich. Doch auch generell finde ich eine solche Rasterfahndung kritisch, da hier nicht gegen Verdächtige ermittelt wird,  sondern massenhaft intime Daten völlig Unschuldiger an die Polizei gehen  und dort gerastert werden.“ (Andre Meister, Redakteur bei Netzpolitik.org)

 

„Die Kritik der Datenschützer richtet sich vor allem an Staatsanwälte, die Funkzellenabfragen leichtfertig anordnen. […] Die Polizei kümmert sich lediglich um die praktische Umsetzung, also die Analyse der Daten“ (Stefan Redlich, Polizist und Pressesprecher, Polizei Berlin)

 

„Die Ergebnisse der Funkzellenabfragen sind keine Beweise, sondern eine neue Spur, der dann mit den üblichen Ermittlungsmaßnahmen nachgegangen wird. 99% der Daten sind gar nicht von Interesse und werden direkt herausgefiltert und gelöscht. Wir müssen nur möglichst alle Daten erfassen, um eine Chance auf Erfolg zu haben“ (Stefan Redlich, Polizist und Pressesprecher, Polizei Berlin)

 

„Die Daten werden nach der aufwändigen Überprüfung gelöscht, wir sind ja keine Datenbank und wollen keinen „Gläsernen Menschen“ erschaffen. Das interessiert uns nicht und hat uns auch nicht zu interessieren. Die Daten werden uns auf CD übermittelt und sie werden nur für laufende Verfahren behalten. “ (Stefan Redlich, Polizist und Pressesprecher, Polizei Berlin)

 

„Wir machen das nicht leichtfertig. Wir wissen, dass wir zumindest für einen kurzen Zeitraum in die Rechte anderer eingreifen. Darum unterliegen wir umfangreichen Kontrollen durch die Richter und der Staatsanwaltschaft.“ (Stefan Redlich, Polizist und Pressesprecher, Polizei Berlin)